Das Geheimnis von Winterset
wieder abreiste. Ganz gleich, wie schmerzlich sie seine Nähe empfand, sie wollte bei ihm sein.
Am nächsten Morgen ritt sie gleich nach dem Frühstück hinüber nach Winterset. Einer der Stallburschen begleitete sie.
Innerlich sträubte Anna sich gegen diese Vorkehrung, aber gleichwohl wusste sie, dass es zu leichtsinnig wäre, jetzt alleine unterwegs zu sein. Hatte sie Kit nicht selbst davon überzeugt, wie unabdingbar es war, kein Risiko einzugehen?
Auf Winterset führte der Butler sie in den Salon, wo Reed sich kurz darauf einfand. Eigentlich hatten sie heute Nick Perkins besuchen wollen, aber Anna war eine andere Idee gekommen.
„Ich habe über das nachgedacht, worüber wir gestern geredet hatten - darüber, dass ich meine ,Gabe' nutzen könnte, um etwas über die Morde herauszufinden. Ich würde es jetzt gerne probieren."
„Hier?", fragte Reed verdutzt.
Anna nickte. „Ich dachte mir, ich könnte mich in Ruhe irgendwo hinsetzen und versuchen, meine Gedanken den Geschehnissen zu öffnen. Ich ... es wäre gut, wenn Sie bei mir blieben, denn die Erfahrungen machen mir immer ein wenig Angst."
„Natürlich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es eine gute Idee ist, es überhaupt auszuprobieren", wandte Reed ein und runzelte besorgt die Stirn.
„Wir sollten alles ausprobieren, was uns möglich ist."
„Nun gut, wenn Sie meinen. Wo möchten Sie es versuchen?"
Sie sah sich in dem eleganten Salon um, mit seinen schweren Mahagonimöbeln und den blauen Samtkissen, die bereits ein wenig verblichen aussahen. Es schien Anna nicht der richtige Rahmen für ein so seltsames Experiment zu sein, aber sie wusste auch nicht, wo denn ein geeigneterer Ort sein sollte.
Und so setzte sie sich in einen Sessel, und Reed nahm auf dem Sofa Platz, das gleich daneben stand. Anna lehnte sich zurück und legte ihre Hände locker in den Schoß. Sie schloss die Augen und kam sich ziemlich albern vor.
Dann versuchte sie, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen - was nicht ganz einfach war, weil sie doch wusste, dass Reed nur einen Schritt von ihr entfernt saß. Sie konzentrierte sich ganz auf Estelle und dachte an den Tag, als das Mädchen sich durch die Hintertür zurück ins Haus geschlichen hatte. Anna erinnerte sich an den schuldbewussten Ausdruck in Estelles Gesicht, an ihre Angst, von Mrs. Michaels ertappt zu werden, und an das dankbare und zugleich freche Lächeln, mit dem sie Anna für deren Hilfe bedacht hatte.
Darüber hinaus kam ihr nichts in den Sinn. Keine Empfindung drohte sie zu überwältigen. Anna versuchte deshalb, sich auch den Tag im Wald zu vergegenwärtigen, als sie den Zwillingen das erste Mal begegnet war, aber sie konnte sich lediglich an die Gefühle erinnern, die sie damals gehabt hatte, und vermochte sie nicht mehr als solche zu empfinden. Sie seufzte und öffnete die Augen. Reed schaute sie fragend an, und sie schüttelte den Kopf.
„Nichts. Aber ich werde es wieder versuchen."
Erneut schloss sie die Augen und dachte nun an die Leiche des jungen Mannes, die sie und die Zwillinge entdeckt hatten. Wieder konnte sie sich genau das Entsetzen, die Angst und den Schmerz ins Gedächtnis rufen, die sie scharf wie eine Klinge durchdrungen hatten - doch wieder war es lediglich eine Erinnerung und keine lebendige Erfahrung.
Anna öffnete die Augen. „Ich fühle nichts. Ich habe versucht, an Estelle und den jungen Johnson zu denken, aber ich kann einfach nichts fühlen. Es tut mir leid."
„Nein, ich bitte Sie, entschuldigen Sie sich nicht. Vielleicht können Sie diese Erfahrungen ja tatsächlich nicht selbst herbeiführen. Oder Sie brauchen noch etwas mehr Übung darin." Reed stand auf und streckte seine Hand nach Anna aus. „Kommen Sie. Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen, und vielleicht finden wir dabei einen Ort, der sich als geeigneter erweist."
„Einverstanden."
Reed bot Anna seinen Arm, sie legte ihre Hand in seine Armbeuge, und wie immer durchfuhr sie bei der leichten Berührung ein wohliger Schauder.
Sie schlenderten aus dem Salon in die große Eingangshalle. Nach links ging ein breiter Korridor ab, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Es war eine Galerie, die zur Gartenseite hin eine Reihe von Fenstern hatte, während an der Wand gegenüber zahlreiche Ölgemälde hingen. Hier und da stand eine Bank, die zum Sitzen einlud.
Es war eine imposante Raumflucht, und Anna konnte sich noch daran erinnern, wie sie als Kind durch die Galerie gerannt war und das laute Klappern ihrer
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