Das Geheimnis von Winterset
von Craydon Tor gehen. Und so zog sie sich ihre Wanderstiefel an, setzte ihren Hut auf und verließ das Haus. Sie folgte zunächst wieder dem Pfad durch den Garten, nahm dann aber die Abzweigung, die sie durch den Wald bis Craydon Tor führen würde, einer Anhöhe, die von dieser Richtung aus allmählich anstieg, auf der anderen Seite jedoch steil ins Tal und zum Dorf hinab abfiel. Der schroffe Hang ragte hoch über Lower Fenley auf und war eine der beeindruckendsten Naturschönheiten dieser Gegend.
Je tiefer Anna in den Wald hineinging, desto dichter wuchsen die Bäume und Büsche um sie herum, und der Pfad war oft kaum im Unterholz auszumachen. Anna war hingegen mit dem Gelände vertraut und fürchtete nicht, sich zu verlaufen.
Sie kannte viele Leute, die den Wald nicht mochten, weil sie es dort düster und unheimlich fanden, aber sie selbst hatte ihn immer als einen friedlichen Ort empfunden und erfreute sich an der Tierwelt, die es hier zu entdecken gab. Manchmal erhaschte sie auf ihren Wanderungen einen Blick auf einen bunt gefiederten Vogel, der von Ast zu Ast flog, oder konnte die possierlichen Sprünge eines Eichhörnchens beobachten.
Auch heute übte der Wald wieder diesen Zauber auf sie aus, und sie fühlte sich sogleich ruhiger. Einmal stieß sie auf ein Rehkitz mit seiner Mutter, die eilig vor ihr flüchteten. Irgendwann setzte sie sich für ein paar Minuten auf einen großen Stein und lauschte einfach den Geräuschen des Waldes - dem Gezwitscher der Vögel, dem leisen Rauschen des Laubes und dem Rascheln im Unterholz, wenn irgendein kleines Tier vorbeihuschte.
Schließlich raffte sie mit einer Hand ihre Röcke zusammen und bahnte sich mit der anderen einen Weg durch das Dickicht von Ästen, um ein Gefälle hinunterzugehen, an dessen Fuß sich ein Tümpel gebildet hatte. Sie lachte leise, als ein Frosch erschrocken von einem Stein aufsprang und mit einem lauten Platsch im Wasser landete. Auf der anderen Seite kletterte Anna wieder aus der Senke hinauf und folgte einem schmalen Pfad, von dem sie wusste, dass er zu einem kleinen, verzauberten Tal führte, das nicht weit von hier war. Vielleicht könnte sie sogar noch weiter gehen, bis zur Hütte hinauf, um dort nach dem Rechten zu sehen. Reumütig dachte sie daran, dass sie sich zu oft vor dieser Pflicht drückte und dass ihr Vater darüber gar nicht erfreut gewesen wäre. Er würde sie ermahnt haben, dass es keine Entschuldigung war, nicht hinzugehen, nur weil sie bedrückte und beunruhigte, was sie dort vorfand.
Plötzlich blieb Anna wie angewurzelt stehen: Eine fürchterliche Kälte umfing sie. Sie griff sich mit der Hand an die Brust, als wolle sie den stechenden, eisig kalten Schmerz verdrängen, der sich dort auszubreiten begann.
Unwillkürlich schloss sie die Augen und sah in Gedanken die tiefe und alles durchdringende Dunkelheit des nächtlichen Waldes vor sich. Panische Angst ergriff von ihr Besitz, und ihr stockte der Atem.
Sie stöhnte leise und taumelte einige Schritte weiter, bis sie zu einem Baum gelangte, an dessen Stamm sie sich lehnte und mühsam nach Atem rang. Langsam beruhigte sie sich, Angst und Schmerz ließen nach, aber das Entsetzen blieb.
Anna drehte sich um und blickte zurück auf die unschuldig anmutende Lichtung, von der sie gerade geflüchtet war.
Sie presste ihre Hand an die Stirn, um ihre einsetzenden Kopfschmerzen zu besänftigen, und wartete, bis das zittrige Gefühl der Schwäche nachließ. Schon bald fühlte sie sich besser, wusste aber aus Erfahrung, dass die Kopfschmerzen noch eine Weile anhalten würden.
Nicht zum ersten Mal war ihr ein solch seltsames Erlebnis widerfahren, bei dem sie glaubte, auf einmal ihren eigenen Körper verlassen zu haben und von Gefühlen überwältigt zu werden, die sie nicht verstand. Meist waren es nur unbestimmte Empfindungen, die sie überkamen, manchmal nahm sie aber auch Gerüche wahr, wie beispielsweise den beißenden Rauch brennenden Holzes, oder sie „sah" sogar Dinge.
Einmal, als sie einen ihrer Pächter besuchen wollte, dessen Kind krank war, wurde sie noch auf dem Weg dorthin von einer so heftigen Welle des Leids erfasst, dass ihr Tränen des Schmerzes in die Augen geschossen waren. Als der Bauer ihr die Tür öffnete, war sie daher keineswegs überrascht gewesen, in seine versteinerte Miene zu blicken und zu erfahren, dass sein Kind vor wenigen Minuten gestorben war.
Für gewöhnlich waren es ganz normale und alltägliche Dinge, die sie sah oder fühlte. Manchmal
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