Das Geheimnis von Winterset
mein Guter, da bist du aber in einen ganz schönen Schlamassel geraten, was?"
Der Hund war von mittlerer Größe und hatte kurzes, gelbliches Fell. Einer seiner Vorderläufe war verletzt und sah seltsam verdreht aus, an Rücken und Bauch hatte er einige tiefe Wunden, und sein Fell war von Blut verklebt.
Anna redete beruhigend auf das Tier ein und streckte langsam eine Hand nach seinem Kopf aus, während sie mit der anderen ein Taschentuch aus ihrer Tasche holte. Der Hund sah zu ihr auf und versuchte schwach, mit dem Schwanz zu wedeln. „So ist es gut. Du weißt, dass wir dir nur helfen wollen, nicht wahr? Aber nur für alle Fälle ... "
Sie streichelte vorsichtig seinen Kopf, während sie gleichzeitig das Taschentuch um seine Schnauze legte und die beiden Enden verknotete. Dann begutachtete sie seine Wunden genauer und stand schließlich auf.
„Er braucht mehr Hilfe, als ich ihm geben könnte", stellte sie fest. „Falls ihn überhaupt jemand retten kann, dann Nick Perkins."
„Wer ist das?"
„Jemand, der nicht weit von hier lebt und sich sehr gut mit Tieren auskennt. Wenn eines meiner Haustiere krank war, bin ich immer zu ihm gegangen. Dabei habe ich selbst auch viel von ihm gelernt."
„Gut." Einer der Jungen nickte.
„Lasst uns zu ihm gehen", meinte der andere.
„Das Problem ist nur, dass wir auch den Hund irgendwie zu ihm bringen müssen."
„Das schaffen wir schon", versicherten ihr die Jungen zuversichtlich.
„Aber wir sollten ihn so wenig wie möglich bewegen", fuhr Anna fort. „Wenn ihr euch einmal kurz umdrehen würdet, könnte ich vielleicht schnell eine Art Trage beschaffen."
Die beiden sahen sie verwirrt an, aber wandten ihr dann gehorsam den Rücken zu. Anna trat rasch ein paar Schritte beiseite und griff dann unter ihr Kleid, band einen ihrer Unterröcke los und zog ihn aus.
„Geschafft", verkündete sie und breitete ihren Unterrock neben dem Hund auf dem Boden aus.
„Gute Idee!", stellte einer der Jungen anerkennend fest.
„Wenn wir in beide Enden Knoten machen, können wir ihn besser tragen", schlug der andere vor.
Anna lächelte zustimmend. Die beiden waren sehr einnehmende Jungen, schnell von Begriff und dazu noch äußerst gutherzig. Sie waren genau das, dachte sie, was man von Reeds Brüdern erwarten konnte.
So vorsichtig wie möglich hoben sie das verletzte Tier auf den Unterrock. Der Hund gab einen klagenden Laut von sich, knurrte aber nicht, da er zu merken schien, dass sie ihm nur helfen wollten. Die Jungen griffen jeweils nach einem Ende der behelfsmäßigen Trage und machten sich unter Annas Führung auf den Weg.
Sie kamen nur langsam voran, und Anna war sich sicher, dass den Jungen ihre Last langsam recht schwer werden musste, aber sie beschwerten sich mit keinem Mucks. Als sie ihnen anbot, eines der Enden der Trage zu übernehmen, lehnten sie mit der Begründung ab, dass sie beide genau gleich groß seien und ihren Patienten somit viel komfortabler befördern konnten.
Unterwegs stellten sie sich als Con und Alex Moreland vor. Anna konnte die beiden nur deshalb voneinander unterscheiden, weil sie sich merkte, dass Alex einen Streifen verkrusteten Schlamms auf der Stirn hatte und Con einen langen Kratzer auf der linken Wange.
„Ich bin Anna Holcomb", erklärte sie ihrerseits, und als die Jungen sie höflich Miss Holcomb nannten, wehrte sie lachend ab: „Ihr könnt mich ruhig Anna nennen, denn nach unserem gemeinsamen Erlebnis brauchen wir solche Förmlichkeiten nicht mehr, meint ihr nicht auch?"
Alex grinste. „Sie sind unschlagbar, Ma'am. Das würde Rafe jetzt sagen."
„Erste Klasse", stimmte Con seinem Bruder eifrig zu.
„Die meisten Mädchen wären bestimmt in Ohnmacht gefallen", fuhr Alex fort. „Natürlich nicht unsere Schwestern, die sind nämlich auch erste Klasse. Aber eine von Kyrias Freundinnen ist ohnmächtig geworden, als ich ihr mal eine Maus gezeigt habe. Dabei war die nicht einmal tot!"
„Mmh. Vielleicht hatte die Freundin einfach nicht das Glück, so wie ich auf dem Lande groß geworden zu sein."
„Sie hat einfach die Nerven verloren", stellte Con klar, und die Verachtung für die zimperliche Freundin seiner Schwester stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Anna bemerkte, dass sie beide grüne Augen hatten, die ganz anders waren als Reeds silbergraue, aber ansonsten sahen die beiden genau so aus, wie Anna sich Reed als zwölfjährigen Jungen vorstellte. Der Gedanke daran umfing ihr Herz mit einer bittersüßen Wehmut.
„Wir hatten
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