Das Geheimnis von Winterset
verärgert zu sein. Ich werde euch so schnell wie möglich nach Hause bringen."
Ihr Herz begann ein wenig zu flattern, wenn sie daran dachte, bei der Gelegenheit womöglich Reed erneut zu begegnen. Dennoch konnte sie die Zwillinge unmöglich allein nach Hause gehen lassen. Sie kannten sich in der Gegend überhaupt nicht aus, und zu Nicks Haus waren sie aus dem Wald hinter Holcomb Manor gelangt und nicht aus der Richtung von Winterset, wohin sie jetzt zurückmussten. Alleine würden sie den Weg dorthin niemals finden. Nun gut, ermutigte sich Anna, dann würde sie Reed eben noch einmal begegnen - aber es bestand ja auch die Hoffnung, dass sie die Zwillinge einfach in die Obhut ihrer Schwester Kyria geben und eine erneute Begegnung mit ihrem Bruder somit vermeiden konnte.
Widerwillig erhoben sich die Jungen von ihren Stühlen, verabschiedeten sich von ihrem neuen Freund Nick und baten höflich um Erlaubnis, ein andermal wiederkommen zu dürfen, um nach dem Wohlergehen ihres Patienten zu sehen. Anna drängte sie eilig aus dem Haus und schlug den Weg nach Winterset ein.
Wie hatte sie nur so nachlässig sein können, schalt sie sich. Natürlich hatte sie nicht wissen können, dass die Jungen schon so lange von zu Hause fort waren, aber trotzdem hätte sie daran denken müssen, sie rechtzeitig heimzubringen! Reed war sicher schon ganz krank vor Sorge ... und der Rest der Familie natürlich auch. Ganz zu Recht wäre er wütend auf sie.
Gerade hatten sie die kleine Fußbrücke überquert, die über den Bach führte, und die Bäume hinter sich gelassen, die das Ufer säumten, da sah Anna in der Ferne einen Mann zu Pferde auf sich zukommen. Ihr ganzer Mut verließ sie, als sie Reed erkannte.
Die Jungen winkten, und Reed winkte zurück, bevor er mit seiner Pistole einen Schuss in die Luft feuerte. Dann trieb er sein Pferd zu größerer Eile an.
„Da ist auch Rafe!", verkündete Con und sah nach Westen, von wo ein weiterer Mann auf sie zuritt. Die Jungen winkten ihm wild zu.
„Euch scheint es gar nicht zu kümmern, was euer Bruder wohl sagen wird", bemerkte Anna.
„Er wird schon ein bisschen schimpfen", versicherte Alex ihr. „Natürlich machen sie sich alle Sorgen um uns, aber eigentlich wissen sie, dass wir ganz gut alleine zurechtkommen - meistens jedenfalls."
„Wir ziehen oft alleine los", fügte Con hinzu.
Anna war sich nicht sicher, ob die Familie der Zwillinge so gelassen reagieren würde, wie die beiden glaubten, doch als Reed sein Pferd vor ihnen zum Stehen brachte und aus dem Sattel sprang, drückte seine Miene tatsächlich eher eine gewisse Resignation als Besorgnis oder Verärgerung aus.
„Na", sagte er beiläufig, verschränkte seine Arme und sah auf die Zwillinge hinab. „Wie ich sehe, habt ihr diesmal Miss Holcomb in euren Schabernack verwickelt."
„Sie war erste Klasse, Reed!", teilte Con ihm begeistert mit. „Du hättest sie sehen sollen, wie sie Perkins geholfen hat, den Hund wieder zusammenzuflicken - und Perkins hat uns versprochen, dass wir ihn haben können, wenn wir wollen und wenn er überlebt, weil er wahrscheinlich ein Streuner ist - und sie ist trotz des ganzen Bluts nicht einmal ohnmächtig geworden!"
„Was du nicht sagst." Reed wandte sich zu Anna um und betrachtete sie mit kühlem Blick.
Sie errötete, denn ihr wurde bewusst, dass sie schon wieder wie eine Vogelscheuche aussehen musste. Ihre Haare standen sicherlich in alle Richtungen ab, sie trug ihre alten Wanderstiefel, einen schlichten Hut und ein Kleid, das nicht nur alltäglich war, sondern jetzt auch noch zahlreiche unappetitliche Flecke aufwies.
„Entschuldigen Sie, Mylord", brachte sie mühsam hervor. „Ich bin mir sicher, dass Sie und Ihre Familie sich große Sorgen um die Zwillinge gemacht haben. Leider habe ich nicht bemerkt, wie spät es bereits geworden war. Ich hätte die beiden früher nach Hause bringen sollen."
Reed lächelte amüsiert. „Entschuldigen Sie sich doch bitte nicht. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass die Schuld wie immer ganz bei meinen beiden Brüdern hier zu suchen ist."
Die Jungen schienen sich jedoch erstaunlich wenig aus seinem strengen Gebaren zu machen. „Reed, du hast dir doch nicht wirklich Sorgen um uns gemacht, oder?", fragte Alex. „Es ist ja nicht einmal dunkel."
„Mmh." Reed blickte vielsagend in die rasch zunehmende Dämmerung. „Stimmt, es ist noch nicht stockfinster."
Erneut wandte er sich an Anna: „Con und Alex sind berüchtigt für ihre Streifzüge. Ich
Weitere Kostenlose Bücher