Das Geheimnis von Winterset
muss gestehen, dass wir tatsächlich nicht sonderlich besorgt waren, abgesehen davon, dass die beiden sich hier in der Gegend gar nicht auskennen. Wenn es erst einmal dunkel geworden wäre, hätten sie nicht so einfach allein zurückgefunden."
In diesem Augenblick stieß auch der andere Reiter zu ihnen und grinste die Jungen an, als er vom Pferd sprang. Er war ein stattlicher Mann, so groß wie Reed und ebenfalls sehr gut aussehend, mit zerzaustem goldbraunem Haar und lebhaften blauen Augen. Als er lächelte, zeigten sich zwei tiefe Grübchen in seinen Wangen.
Er zwinkerte den Zwillingen zu und meinte: „Na, ihr beiden, habt ihr euch mal wieder in Schwierigkeiten gebracht?"
Anna dachte sich, dass er der amerikanische Schwager sein musste, denn sein Tonfall war weich und ein wenig undeutlich. Alles, was er sagte, klang so, als würde ihn die ganze Welt belustigen. Er sah zu Anna hinüber, nahm schwungvoll seinen Hut ab und verbeugte sich galant vor ihr. „Rafe McIntyre, Ma'am. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen, weil Sie in die Fänge dieser beiden Strolche geraten sind."
„Auf mich machten sie den Eindruck, sehr erfreuliche und bemerkenswerte junge Gentlemen zu sein", erwiderte Anna, ohne mit der Wimper zu zucken.
McIntyre lachte und zwinkerte den Zwillingen erneut zu. „Ihr habt sie ganz schön um den Finger gewickelt, was?
Sie sind aber auch sehr bemerkenswert, Miss ... "
„Entschuldige bitte", unterbrach Reed ihn. „Miss Holcomb, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Schwager Rafe McIntyre vorzustellen. Sie müssen ihm bitte seine Missachtung der angemessenen Umgangsformen nachsehen - er ist Amerikaner." Er milderte seine Worte ab, indem er seinem Schwager mit einem Blick bedachte, der erkennen ließ, dass die beiden Männer sich sehr mochten und ausgezeichnet verstanden. „Rafe, das ist Miss Anna Holcomb, unsere nächste Nachbarin. Ihr Bruder ist Sir Christopher, den du ja bereits kennengelernt hast."
„Es ist mir ein Vergnügen, Ma'am." Rafe verbeugte sich ein weiteres Mal, und Anna erwiderte sein herzliches Lächeln, denn seinem heiteren Wesen und seiner unbefangenen Art konnte man sich nur schwer entziehen.
„Wir hatten nicht vor, so lange wegzubleiben", fing Alex zu erklären an, „aber dann haben wir diesen armen Hund gefunden. Er war in einem so erbärmlichen Zustand, dass Con und ich gar nicht wussten, was wir mit ihm machen sollten. Zum Glück kam dann Miss Holcomb vorbei und hat uns geholfen. Sie kennt nämlich einen Mann, der alles darüber weiß, wie man Tiere heilen kann. Ihr solltet mal sein Haus sehen! Von den Dachbalken hängen alle möglichen Pflanzen zum Trocknen, und er stellt damit Salben und Arzneien her."
„Und er hat den Hund wieder zusammengeflickt", fuhr Con aufgeregt fort, „und er hat uns dabei zuschauen lassen.
Miss Holcomb hat ihm geholfen und den Kopf des Hundes festgehalten. Und ihr ist dabei nicht mal schlecht geworden!"
Anna lachte leise und zauste ihm liebevoll das Haar. „Ich habe Nick geholfen, seit ich ein kleines Mädchen war.
Du kannst mir glauben, dass auch ich eine ganze Weile gebraucht habe, um mich daran zu gewöhnen."
Während sie sich unterhielten, näherte sich ihnen ein weiterer Reiter, der wohl auch dem Signal von Reeds Pistolenschuss gefolgt war. Es handelte sich um einen kleinen, drahtigen Mann, der zwei gesattelte Ponys mit sich führte. Er brachte sein Pferd neben den anderen zum Stehen, sprang behände aus dem Sattel und kam entschlossenen Schrittes auf die Zwillinge zu.
„Da seid ihr beiden ja!" Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Wegen euch kleinen Nichtsnutzen ist eure Schwester fast krank vor Sorge. Ihr solltet euch schämen, nur dass ihr es wisst!"
„Es tut uns leid, Jenkins." Zum ersten Mal blickten die Jungen wirklich reumütig drein.
Reed wandte sich an Anna: „Wir müssen uns gar keine Gedanken darüber machen, dass wir zu nachsichtig mit den beiden sind. Jenkins nimmt uns das Tadeln gerne ab."
„Genau, und wenn ich es nicht tun würde, wer würde es dann machen? Können Sie mir das verraten?" Nun bedachte der Mann Reed mit einem wütenden Blick. „Niemand von Ihnen kümmert sich doch um die beiden, wie es sich gehört!"
„Sie haben ja Recht. Und deshalb sind wir auch froh, dass wir Sie haben."
„Mmh. Ich habe euch alle in Zaum gehalten, wirklich wahr", stimmte Jenkins zu und nickte heftig mit dem Kopf.
„Und ich kann Ihnen versichern, dass Sie und Theo früher genauso schlimm waren
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