Das Geheimnis von Winterset
dass das Tier wieder gesund wird."
Reed betrachtete sie einen Moment aufmerksam. „Sie scheinen die beiden wirklich zu mögen."
„Ja, natürlich." Anna sah ihn verwundert an. „Wie sollte ich denn nicht? Sie sind wunderbare Jungen."
„Manche Leute sind da entschieden anderer Meinung", bemerkte Reed trocken.
Anna rümpfte die Nase. „Das müssen aber komische Leute sein."
Reed lachte leise. „Einige schon. Andererseits ist es anscheinend wirklich so, als brauchten die Zwillinge nur in der Nähe zu sein, damit bestimmte Dinge einfach geschehen."
„Was für Dinge?"
„Oh, Frösche im Bett ihres Hauslehrers beispielsweise, oder ein entflogener Papagei ... oder die Boa constrictor ...
oder die Sache mit dem Kaninchen. Dann war da noch das Feuer im Schulzimmer - ich glaube, es passierte, als sie Siedler in Amerika spielten und dazu eine Zunderbüchse benutzten. Oder damals, als sie in den leeren Brunnenschacht geklettert sind, weil sie das Kätzchen herausholen wollten. Oder ..."
Anna lachte und hielt abwehrend eine Hand in die Höhe, um ihn zu unterbrechen. „Schon gut, ich glaube Ihnen!"
Sie lächelten sich an, und urplötzlich wurde Anna von einer tiefen Sehnsucht erfasst ... Es war kein bloßes Verlangen, das sie spürte, sondern eine tiefe Sehnsucht nach der Vertrautheit, die einmal - wenngleich nur allzu kurz - zwischen ihnen bestanden hatte, einer geistigen und gefühlsmäßigen Übereinstimmung, einem gemeinsamen Sinn für Humor und einer freudigen Aufgeregtheit, die allem zugrunde gelegen hatte. Sie hatten sich gemocht, waren einfach nur gerne zusammen gewesen, und auf einmal wurde Anna schmerzlich bewusst, wie sehr ihr diese Vertrautheit fehlte. Sie hätte Reed gerne gefragt, ob sie nicht einfach Freunde sein konnten, aber kaum war ihr der Gedanke gekommen, verwarf sie ihn auch schon wieder.
Sie wusste, dass es unsinnig war, auch nur daran zu denken. Nach allem, was zwischen ihnen geschehen war, konnten sie wohl kaum noch Freunde sein. Wenn sie die ganze Sache von Anfang an anders angegangen wäre - dann vielleicht. Oder wenn sie gewusst hätte ... Aber sie hatte es nicht gewusst, und so war geschehen, was geschehen war. Nun konnte sie kaum mehr erwarten, als dass sie einander mit einer distanzierten Höflichkeit begegneten.
Anna senkte ihren Blick, und erneut drohte sich ein befangenes Schweigen zwischen sie zu drängen.
„Anna", sagte Reed eindringlich und beugte sich zu ihr vor.
Sie sah argwöhnisch auf. Er war ihr auf einmal so nah, dass es ihr schwerfiel, zu atmen.
„Was ist vor drei Jahren mit uns geschehen?", fragte er leise mit rauer Stimme. „Sollte ich mich so sehr geirrt haben? Haben Sie niemals das für mich empfunden, von dem ich glaubte, Sie würden es für mich empfinden?"
„Bitte ... ", erwiderte Anna flüsternd. Ihre Stimme drohte ihr zu versagen. „Nein, fragen Sie mich bitte nicht ... "
„Ich habe Sie geliebt, und ich dachte, Sie würden mich auch lieben. War ich damals so blind? War ich so in Eitelkeit befangen, dass ich die Wahrheit nicht sehen wollte?"
„Ich bitte Sie, drängen Sie mich nicht zu einer Antwort." Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie wandte rasch den Blick ab, denn sie wusste, dass sie anfangen würde zu weinen, wenn sie Reed noch länger ansah. „Warum sind Sie zurückgekommen? Warum haben Sie darauf bestanden, mich heute Abend zu begleiten? Können Sie die Vergangenheit nicht endlich ruhen und es gut sein lassen?"
„Nein, denn es ist ja nicht gut", entgegnete er schroff. „Zumindest nicht für mich." Er griff nach ihrer Hand, und Anna sah ihn mit großen Augen furchtsam an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Als Sie mich abgewiesen hatten, war ich zu verletzt, um nach Ihren Gründen zu fragen. Ich fühlte mich elend und wollte so schnell wie möglich zurück nach London, um dort meine Wunden zu lecken. Doch nun ... nun kehre ich hierher zurück und finde Sie immer noch hier - und immer noch unverheiratet. Sie sind eine schöne junge Frau in der Blüte Ihres Lebens, und dennoch hat kein anderer Mann ihr Herz erobert. Warum?"
„Ich möchte nicht heiraten", stellte Anna klar, straffte die Schultern und entzog Reed ihre Hand. „Eine Frau muss schließlich nicht heiraten. Ich bin mit meinem Leben zufrieden, so wie es ist."
„Aber Ihr Bruder wird eines Tages heiraten, und dann werden Sie nicht mehr die Herrin auf Holcomb Manor sein.
Für die meisten Frauen wäre dies eine wenig erstrebenswerte Situation. Sie hätten lieber ein
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