Das Geheimnis von Winterset
eigenes Heim, einen Mann und Kinder ... "
„Ganz offensichtlich bin ich anders als die meisten Frauen", meinte Anna leichthin. „Und ich denke nicht, dass ich Ihnen das erklären müsste."
„Nein, das müssen Sie natürlich nicht. Trotzdem frage ich mich, warum Sie keinen anderen Mann gefunden haben, da Sie mich doch nicht liebten."
„Muss eine Frau denn einen Mann lieben?", erwiderte Anna. „Es gibt sicher Frauen, die das nicht tun. Und vielleicht sollte ich Sie daran erinnern, dass es mindestens ebenso seltsam ist, dass auch Sie nicht geheiratet haben."
„Oh, ganz und gar nicht - schließlich war ich es, der ein gebrochenes Herz hatte, und es braucht seine Zeit, bis man sich erneut einer Frau anvertrauen mag. Ihr Herz indessen war unversehrt."
„Vielleicht ist mein Herz ja nur deshalb unversehrt, weil ich nicht lieben kann. Dieser Gedanke wird Ihnen sicher schon einmal gekommen sein."
„Ja, daran habe ich in der Tat gedacht", stimmte er zu. „Ich habe viele Nächte wach gelegen und versucht, mich davon zu überzeugen. Aber als ich Sie heute zusammen mit Con und Alex gesehen habe, erschien es mir zunehmend unwahrscheinlich. Sie strahlten so viel Wärme und Mitgefühl aus ... so viel Herzlichkeit und Güte. Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie keine Kinder wollen."
„Natürlich will ich Kinder!", erwiderte Anna aufgebracht und sah ihn mit funkelnden Augen an. Sogleich hielt sie inne, holte tief Luft und versuchte, die Empfindungen zu verdrängen, die seine Worte in ihr geweckt hatten. Hastig überlegte sie, wie sie ihren Gefühlsausbruch abmildern könnte, und fuhr dann schließlich mit ruhiger Stimme fort:
„Nur heißt das nicht, dass dies für mich ein ausreichender Grund für eine Heirat wäre - genauso wenig wie ich einen Mann seines Vermögens oder seines Titels wegen heiraten würde."
„Ihre Worte sind praktisch ein Schlag in mein Gesicht", stellte Reed fest und lehnte sich tief in seinen gepolsterten Sitz zurück. „Mein Titel und mein Vermögen wären offensichtlich Ihre einzigen Gründe gewesen, mich zu heiraten."
„Ich weiß nicht, warum Sie weiter auf einer Erklärung beharren", brachte Anna mühsam hervor. Ihr missfiel die Kälte, die sich in seine Stimme geschlichen hatte. „Ich wollte Sie nie verletzen, und ich will es auch jetzt nicht.
Können Sie es nicht einfach dabei belassen?"
„Nein, denn ich fürchte, dass ich genauso halsstarrig und widerspenstig bin wie meine kleinen Brüder", erwiderte Reed trocken. „Eine schlechte Eigenschaft der Morelands, wie mir schon häufiger gesagt wurde."
Anna betrachtete angelegentlich ihre Hände. „Ich konnte Sie nicht heiraten", stieß sie hervor, „denn ich habe für Sie nie das empfunden, was eine Frau für ihren Mann empfinden sollte." Sie hob ihren Kopf und blickte ihm kühl und unverwandt in die Augen. „Ich habe meine Entscheidung nie bereut und würde mich jederzeit wieder so entscheiden."
Sie schluckte, denn auf einmal spürte sie eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen.
„Ich verstehe. Nun ... ich denke, deutlicher hätten Ihre Worte nicht sein können."
Anna wandte den Blick ab. Erleichtert sah sie die Lichter von Holcomb Manor vor sich in der Dunkelheit auftauchen. Gleich würde sie diese furchtbare Fahrt überstanden haben.
In der Kutsche herrschte eine angespannte Stille, und sobald sie angekommen waren, stand Anna hastig auf und stieg aus, bevor Reed seine Hand ausstrecken und ihr helfen konnte.
„Danke", sagte sie atemlos und eilte zum Haus, ohne Reeds Antwort abzuwarten. Ein warmer, goldgelber Lichtschein fiel in die dunkle Nacht, als die Tür sich rasch öffnete, einer der Hausdiener heraustrat und sich grüßend vor Anna verbeugte.
Schnellen Schrittes stieg sie die Stufen der Vordertreppe hinauf, betrat das Haus, und mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Für einen Moment blieb Anna reglos stehen und wartete darauf, dass sie aufhörte, am ganzen Leib zu zittern.
„Miss Anna, geht es Ihnen nicht gut?"
Sie drehte sich zu dem Hausdiener um. „Oh, John. Doch, es geht mir ausgezeichnet." Sie zwang sich zu einem Lächeln. Dann eilte sie durch die Eingangshalle und die Treppe hinauf, um in ihrem Schlafzimmer Zuflucht zu suchen.
Ihre Kammerzofe Penny erwartete sie bereits, und Anna war froh, dass sie ihr sofort aus den Kleidern und in ihr Nachthemd half, denn sie wünschte sich im Moment nichts lieber, als sich in ihrem Bett zu verkriechen und ihren Tränen freien Lauf zu lassen. So
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