Das Geheimnis von Winterset
zurückfahren."
„Bitte, Miss Holcomb, geben Sie mir die Gelegenheit, mich als Gentleman zu erweisen. Meine Schwestern gestatten mir das nur selten, und deshalb muss ich leider immer unsere Gäste mit meinen guten Manieren behelligen."
Kyria verdrehte die Augen, bevor sie ihren Bruder liebevoll ansah, und sagte zu Anna: „Geben Sie lieber gleich auf, denn Reed wird nicht nachgeben. Er hat einen so stark ausgeprägten Beschützerinstinkt, dass er mich manchmal sogar an einen Hund erinnert, der seinen Lieblingsknochen bewacht. Aber er macht es dadurch wett, dass er ein wirklich angenehmer Begleiter ist."
„Ich bin mir sicher ... ich wollte nicht ... " Peinlich berührt hielt Anna inne. War ihr Widerstreben denn so offensichtlich gewesen? Auf keinen Fall wollte sie irgendwelche Vermutungen bei Reeds Schwester wecken.
Hoffentlich war es dafür bereits nicht schon zu spät, schon bei Tisch war ihr die Neugier aufgefallen, mit der Kyria sie beobachtet hatte.
Und so hatte sie kurz darauf wieder ihr altes Kleid an und saß Reed gegenüber in einer eleganten Victoria-Kutsche mit offenem Verdeck, in der sie durch die milde Sommernacht fuhren.
Es war Vollmond, und ein sanftes, romantisches Licht lag über der nächtlichen Landschaft. Als Reed und Anna die Auffahrt hinunterfuhren, wölbten sich die mächtigen Kronen der alten Linden hoch über ihnen, sodass der Mond und die Sterne nur gelegentlich funkelnd durch das Laub schienen. Eine leichte Brise ließ die Blätter rauschen und fuhr zart über Annas Wangen.
Sie sah Reed an, der ihr gegenübersaß. Obwohl sie einander recht nah waren, konnte sie sein Gesicht in dem schwachen Licht kaum ausmachen, erkannte nur seine jetzt dunklen, rätselhaften Augen und seine hohen Wangenknochen, auf die in diesem Moment ein heller Mondstrahl fiel. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sehr sie diese romantische Fahrt genießen würde, wenn sie ihn damals nicht zurückgewiesen hätte und wenn er nun neben ihr säße ... Wenn nur ihr ganzes Leben anders verlaufen wäre!
Anna schüttelte diesen Gedanken rasch von sich ab und sagte fröhlich: „Das ist eine sehr schöne Kutsche."
„Sie gehört Kyria. Rafe hat sie ihr geschenkt, als sie vor ein paar Wochen nach England zurückgekehrt sind. Sehr schön und ein wenig unpraktisch - ganz wie Kyria." Reed lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.
„Mir scheint, dass Sie Ihre Schwester sehr mögen."
Reed nickte. „Ich mag meine ganze Familie." Er hielt kurz inne. „Ich möchte Ihnen dafür danken, was Sie für die Zwillinge getan haben."
„Was hätte ich anderes tun sollen?"
Er schmunzelte. „Ich denke, dass es eine ganze Menge Frauen gibt, die den beiden nicht dabei geholfen hätten, einen verletzten Hund durch den Wald zu tragen. Außerdem hatten die beiden auch kein Anrecht darauf, durch Ihre Ländereien zu streifen."
Anna winkte ab. „Kit und ich freuen uns, wenn die Zwillinge.
dort auf ihre Erkundungstouren gehen." Im nächsten Moment runzelte sie allerdings kurz die Stirn und fügte rasch hinzu: „Allerdings sollten sie nicht so tief in den Wald gehen - oder gar bis Craydon Tor. Dort könnten sie sich leicht verlaufen."
„Normalerweise haben sie immer ihren Kompass dabei. Wahrscheinlich hätten sie auch heute wieder allein zurückgefunden. Aber ich werde mit ihnen wegen Craydon Tor reden, wenngleich ich fürchte, dass meine Warnung nur noch einen zusätzlichen Anreiz für sie schaffen wird, genau dorthin zu gehen."
„Typische Jungen also", stellte Anna lächelnd fest. „Kit wollte immer genau das am liebsten tun, was ihm verboten worden war. Aber Sie sollten Ihnen wirklich einschärfen, nicht alleine in den Wald zu gehen. Sie könnten stürzen, außerdem ... irgendein wildes Tier muss gerade dort sein Unwesen treiben. Ich kann mir nicht erklären, was es gewesen sein könnte, aber der arme Hund heute war sehr schwer verwundet. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass Con und Alex diesem wilden Tier begegnen." Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. „Wenn sie bei uns auf Holcomb Manor vorbeikommen, werde ich unserem Wildhüter Rankin Bescheid sagen, damit er die beiden begleitet. Ich bin mir sicher, dass ihnen ein gemeinsamer Ausflug große Freude machen wird."
„Das wäre sehr nett. War der Hund denn wirklich so schlimm zugerichtet, wie die Jungen es beschrieben haben?"
Anna nickte. „Ja. Und Nick Perkins ist zwar ein guter Heiler, aber ich hoffe, dass Con und Alex nicht allzu sehr darauf bauen,
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