Das Geheimnis von Winterset
könnte, Mylady. Ein ganz vorzügliches Gefährt, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten."
„Mr. Norton." Kyria nickte ihm grüßend zu.
Lawrence Norton war ein hagerer Mann, und wenngleich er recht groß war, so hatte er während der vielen Stunden, die er über seine Bücher gebeugt verbrachte, doch eine gebückte Haltung angenommen. Das ließ ihn kleiner erscheinen als er tatsächlich war. Obwohl Anna seine Kompetenz als Anwalt schätzte, hatte sie sich mit seinem anbiedernden Gebaren nie anfreunden können, und nun stellte sie fest, dass er Kyria gegenüber eine wahre Untertänigkeit an den Tag legte. Nachdem er ihr zunächst ausufernd Komplimente über ihre Kutsche und die Pferde gemacht hatte, ließ er sich nun begeistert über das Fest aus, das sie gegeben hatte.
„Es war Mrs. Norton und mir eine große Ehre, eingeladen zu sein", verkündete er überschwänglich. „Das war sehr großzügig von Ihnen. So ein wundervoller Abend - hervorragende Musiker, köstliches Essen ... "
„Danke, Mr. Norton", erwiderte Kyria. „Ich bedaure nur, dass alles ein so trauriges Ende fand."
„Oh ja, eine ganz furchtbare Sache. Furchtbar! Es ist schrecklich, dass so etwas Ihren Aufenthalt hier verderben musste. Ich kann nur hoffen, dass Sie nun keinen allzu schlechten Eindruck von Lower Fenley bekommen haben.
Da Ihr Bruder jetzt hierzubleiben gedenkt, wünschen wir uns natürlich, dass Sie uns auch oft die Ehre Ihres Besuches machen."
Die Worte des Anwalts waren ein Schock für Anna. Reed hat. vor, hier zu leben?
Sie bemühte sich, ihre Fassung nicht zu verlieren, während Kyria sich geschickt aus den Fängen von Mr. Nortons Unterhaltung befreite und in die Kutsche stieg. Ein wenig außer Atem, nahm Anna neben Kyria Platz. Als sie losfuhren, ließ Mr. Norton es sich nicht nehmen, ihnen zum Abschied hinterherzuwinken.
„Ree... Ihr Bruder hat vor, auf Winterset zu leben?", fragte Anna betont beiläufig. „Ich dachte, er wollte das Haus verkaufen."
Kyria sah sie an. „Ich denke, er hat sich anders entschieden. Es ist ja schließlich ein wunderbares Anwesen, finden Sie nicht auch?"
„Oh ja, es ist herrlich." Anna schluckte. Was soll ich nur tun, wenn er hierbleibt? Sie war so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie Kyria sie nachdenklich betrachtete.
Anna fühlte sich immer noch ein wenig benommen, als sie wenig später dem Kutscher den Weg zum Haus von Estelles Familie beschrieb. Glücklicherweise redete Kyria auf der Fahrt nur wenig. Anna hätte der Unterhaltung nur schwer folgen können, konnte sie doch kaum an etwas anderes denken als daran, dass Reed fortan auf Winterset leben würde.
Nachdem sie das Haus der Akins' erreicht hatten, zwang sie sich, Reed für einen Moment aus ihren Gedanken zu verbannen. Anna und Kyria sprachen der trauernden Familie ihr Bedauern und ihr Mitgefühl aus und hörten sich an, wie Mrs. Akins ihnen erzählte, was für ein gutes Mädchen Estelle gewesen war.
Als Anna sie fragte, ob sie den Mann kannten, mit dem Estelle sich getroffen hatte, erwiderte Mrs. Akins aufgebracht: „Es war nicht so, wie diese Mrs. Michaels behauptet! Estelle schleicht sich nachts nicht heimlich davon, und sie hat sich auch mit keinem Mann getroffen."
Anna nickte und murmelte erneut Worte des Beileids. Von Estelles Familie würde sie also nichts über den mysteriösen Verehrer erfahren. Doch als sie und Kyria das Haus verließen, kam ihnen Estelles jüngere Schwester nachgelaufen. „Miss?"
Anna drehte sich um, und das Mädchen huschte schnell nach draußen und schloss die Tür hinter sich. „Ich wollte Sie etwas fragen ... wissen Sie, als Sie nach diesem Mann gefragt haben... "
Anna nickte ermutigend. „Ja?"
„Es könnte sein, dass er sie umgebracht hat, nicht wahr?"
„Ja, das könnte sein."
Das Mädchen nickte. „Meine Mutter will davon nichts wissen, aber Stell hat sich mit jemandem getroffen. Sie hat es mir selbst gesagt."
„Hat sie auch etwas über ihn erzählt? Seinen Namen vielleicht? Oder wie er aussah?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, nicht viel. Sie hat nur gesagt, dass er ihr Leben verändern würde und dass sie nicht immer für andere Leute die Häuser putzen würde. Bloß wollte sie mir nicht verraten, wer es war - selbst dann nicht, als ich anfing, sie damit aufzuziehen, dass sie gar keinen Freund hätte."
Anna stellte dem Mädchen noch ein paar Fragen, aber mehr konnte sie von ihr nicht erfahren. Nachdem das Mädchen ins Haus
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