Das Geheimnis von Winterset
Haus der Akins'. „Ah, da kommt Reed. Ich bin bereits gespannt, was er wohl zu sagen hat. Den ganzen Tag über ist er schon schlechter Laune."
Daran schien sich nichts geändert zu haben, dachte Anna, als sie ihn nun zur Kutsche zurückkommen sah. Sein Gesicht wirkte ernst, und seine grauen Augen gaben seine Gedanken nicht preis.
„Miss Holcomb", begann er ohne Umschweife, „würden Sie ein wenig mit mir spazieren gehen? Ich ... ich möchte mit Ihnen reden."
In banger Erwartung zog sich Annas Magen zusammen. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich mit Reed zu unterhalten, aber da sie gerade in der Kutsche seiner Schwester saß, sah sie auch keinen Ausweg aus ihrer Situation. Als sie Kyria anblickte, sah sie deren Augen vor Neugier funkeln. Offenbar wusste Kyria ebenso wenig von Reeds Absichten wie Anna selbst.
„Ja, natürlich", erwiderte sie schließlich und stieg aus dem Wagen. Reed war ihr beim Aussteigen behilflich, sie ließ seine Hand jedoch schnell wieder los, sobald sie mit beiden Beinen sicher auf dem Boden stand. Ein wenig trotzig hob sie ihr Kinn in die Höhe und sah ihn an. Er deutete auf die Straße und sagte: „Ich würde Ihnen gerne meinen Arm anbieten, aber mein Gefühl sagt mir, dass Sie das Angebot ausschlagen würden."
Wortlos ging sie an ihm vorbei, wobei sie ihren Rock ein wenig anhob, damit der Saum nicht durch den Straßenstaub schleifte. Als sie und Reed sich weit genug von Kyrias Wagen entfernt hatten, ergriff Anna rasch das Wort, da sie fand, dass es besser sei, gleich zum Angriff überzugehen als abzuwarten, was er ihr zu sagen hatte.
„Lord Moreland", sagte sie mit klarer Stimme, „wenn Sie mir jetzt wieder eine Standpauke halten wollen, so möchte ich doch ... "
„Nein, seien Sie unbesorgt. Diese Absicht habe ich nicht, und ich ... auch gestern war es nicht so gemeint. Ich möchte mich dafür entschuldigen, was ich zu ihnen sagte. Es war ... nicht nett."
Mit sichtlicher Überraschung blickte Anna ihn an.
„Bitte schauen Sie doch nicht so erstaunt", meinte er mit einem kleinen Lächeln. „Sie lassen mich ja glauben, dass ich ein wahrhaftiges Ungeheuer bin."
„Nein, aber ich ... es war eine sehr unangenehme Situation."
„Ich habe mir Sorgen um Ihr Wohlergehen gemacht. Allerdings haben Sie ganz Recht: Mir steht das nicht zu. Was auch immer uns meiner Ansicht nach einmal verbunden haben mag, so ist das schon lange vorbei. Ich wollte mir keineswegs etwas anmaßen. Es ist einfach nur so, dass ich ... " Er seufzte und blickte unbestimmt in die Ferne. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen davon erzählen soll, ohne dass Sie mich für verrückt halten. Zumindest sollten Sie wissen, dass ich mich nicht ohne Grund in Ihre Belange einmische."
Nun betrachtete Anna ihn mit wachsender Neugierde. „Was meinen Sie damit?"
„Vor gar nicht langer Zeit habe ich ... von Ihnen geträumt."
Anna spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg, und blickte verlegen zu Boden. Auch sie hatte in manchen Nächten Träume von Reed gehabt, die sie oft in Tränen aufgelöst, manchmal aber auch leidenschaftlich erhitzt hatten erwachen lassen.
„Ich will gar nicht so tun, als sei es das erste Mal gewesen", fuhr Reed fort. „Nur war es seit langer Zeit das erste Mal, und diesmal war es ... anders. Der Traum hat mir Angst gemacht."
Anna blieb stehen und sah ihn erschrocken an. „Angst? Was meinen Sie damit?"
„Ich habe geträumt, dass Sie in Gefahr wären und mich um Hilfe riefen." Mit bedrückter Miene schaute er sie an.
„Mir ist bewusst, wie seltsam es klingen muss, einem Traum eine solche Bedeutung beizumessen. Aber dieser Traum war anders als alle, die ich jemals zuvor hatte. Alles schien so wirklich zu sein ... so eindringlich, dass ich einfach glauben musste, dass es etwas zu bedeuten hätte."
„Sie meinen, dass ich tatsächlich in Gefahr bin?", vergewisserte Anna sich und sah Reed fassungslos an.
„Ja." Er wandte sich zu ihr um und machte dabei eine Miene, als würde er einem Hinrichtungskommando gegenübertreten.
„Sie hatten diesen Traum, bevor Sie nach Winterset kamen?"
Er verzog das Gesicht und wandte den Blick ab. „Ja, es war der eigentliche Grund, weshalb ich hierher zurückkommen wollte. Ich wusste ja nicht, was nicht stimmte, und es schien mir unmöglich, Ihnen so wirre Gedanken in einem Brief mitzuteilen. Meiner Ansicht nach war die einzige Lösung meines Dilemmas, selbst hierher zu kommen und mich vor Ort zu vergewissern, was passiert
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