Das Geheimnis von Winterset
war."
Ihr wurde ganz warm ums Herz. Obwohl sie Reed so sehr verletzt hatte - selbst nach allem, was sie gestern zu ihm gesagt hatte -, war er zu ihr gekommen, weil er glaubte, dass sie in Gefahr war und er sie davor schützen wollte.
Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich rasch ab, um ihre Gefühle vor ihm zu verbergen.
„Wahrscheinlich halten Sie mich nun für verrückt", schloss Reed mit rauer Stimme. „Nur ein Narr würde seinen Träumen Glauben schenken. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass etwas Wahres daran ist. Ich kann Ihnen nicht erklären, weshalb mich mein Traum so sicher gemacht hat, aber das Gefühl der Bedrohung war so überwältigend, dass ich nicht den geringsten Zweifel hatte. Mit dem Verstand lässt sich einfach nicht alles erklären. In den letzten paar Jahren habe ich Dinge gesehen und erfahren, die sich jeglicher Logik widersetzen."
„Ich halte Sie nicht für verrückt", sagte Anna und sah ihn mit ernster Miene an.
„Wie bitte?" Verblüfft zog er die Augenbrauen in die Höhe. „Sie glauben also, dass ich recht habe?"
„Ich glaube Ihnen, dass Sie dieses Gefühl hatten und es für bedeutsam halten. Ob Ihre Vorahnungen wahr oder falsch sind, kann ich nicht beurteilen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich daran glaube, dass Träume und ... und Visionen wahr sein können. Mir ist zumindest nicht bewusst, dass ich in Gefahr sein könnte. Doch neulich ..."
Anna zögerte. Noch nie hatte sie jemandem von den „Visionen" erzählt, die sie schon ihr ganzes Leben lang gehabt hatte. Trotz Reeds Erzählung über seinen eigenen Traum verspürte sie ein wenig Angst bei dem Gedanken, sich ihm gegenüber so weit zu offenbaren.
Aber schließlich begann sie: „Als ich an jenem Tag, an dem ich Ihren Brüdern begegnet bin, durch den Wald ging, wurde ich auf einmal von einem... einem Gefühl erfasst, das ich kaum beschreiben kann. Ich spürte eine überwältigende Angst und einen unglaublichen Schmerz, und mir war kalt, unbeschreiblich kalt... In Gedanken sah ich den Ort vor mir, an dem ich gerade stand, nur war es Nacht, und ich spürte diesen Schmerz."
„Du lieber Himmel, Anna!" Unwillkürlich griff Reed nach ihrer Hand. „Was war mit Ihnen geschehen?"
Sie schüttelte den Kopf und schloss ihre Finger um die seinen. „Ich weiß es nicht. Dort im Wald war nichts, und im Nu war das Gefühl auch wieder verschwunden. Ich konnte mir nicht erklären, was es bedeuten sollte. Aber als ich an jenem Abend erfuhr, dass Estelle vermisst wurde, musste ich wieder an diesen Augenblick im Wald denken, und ich ... ich brachte es sofort damit in Zusammenhang." Anna hielt inne, um sich zu sammeln. Sie senkte den Blick und wurde gewahr, dass Reed ihre Hand hielt.
Errötend entzog sie sich ihm rasch. Reed sah sie schweigend an.
„Es bestand hingegen keinerlei Anlass, eine Verbindung zwischen den beiden Dingen zu sehen", fuhr sie ein wenig unbeholfen fort. „Estelles Leiche ist ganz woanders gefunden worden. Als ich dieses Gefühl hatte, wussten wir noch gar nichts von ihrem Tod, und vermutlich war es auch nicht der Zeitpunkt, zu dem sie umgebracht wurde. Das ist wahrscheinlich schon am Abend zuvor geschehen, kurz nach ihrem Verschwinden. Wenn mein Gefühl überhaupt eine Bedeutung hatte, kann es eigentlich nur mit dem Hund zusammenhängen, den die Zwillinge gefunden haben. Aber wegen dieses Erlebnisses im Wald habe ich überhaupt erst darauf bestanden, dass unsere Hausangestellten nach Estelle suchen. Ich konnte nicht glauben, dass sie einfach mit einem Mann durchgebrannt war."
„Und Sie hatten recht."
„Ja, leider. Mir war allerdings nicht bewusst, was meine... Vision letztlich bedeuten könnte. Ich weiß es immer noch nicht. Dennoch konnte ich mich diesem Gefühl nicht entziehen. Wie Sie schon sagten, auch ich war mir sicher, dass es von Bedeutung sein musste."
Reed runzelte die Stirn. „Ich kann mir wirklich nicht erklären, was unsere Vorahnungen uns sagen wollen, aber sie beunruhigen mich zutiefst."
Anna lachte kurz auf. „Ja, mich lässt das auch nicht unberührt - ich kann Ihnen versichern, dass ich zukünftig von solchen Erfahrungen gerne verschont bliebe."
„Mir wäre es lieber, wenn Sie Derartiges gar nicht erst erfahren müssten", stimmte Reed zu, besann sich kurz und korrigierte dann: „Ich wünsche es niemandem. Was mich allerdings viel mehr beunruhigt, ist die Möglichkeit, dass Ihre Empfindung oder mein Traum lediglich Vorboten für etwas viel Schlimmeres sind, das noch
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