Das Geheimnis von Winterset
„Oh! Das wollte ich nicht sagen! Ist das nicht eine furchtbare Redewendung, Miss?"
„Ja, wir sagen oft Dinge, über die wir uns keine Gedanken machen. Aber Penny, auch wenn Estelle dir nicht verraten hat, wie er heißt, so muss sie doch andere Dinge über ihn erzählt haben, beispielsweise wie er aussah oder wo er wohnt."
Nachdenklich runzelte die junge Frau die Stirn. „Nein, Miss, sie hat ein Geheimnis um ihn gemacht, wirklich wahr.
Ich habe sie natürlich ausgefragt, weil ich ja neugierig war, aber sie hat mir nie etwas erzählt, außer dass er ein Gentleman war."
„Ein Gentleman?", fragte Anna verdutzt.
Penny nickte. „Das hat mich auch so überrascht! Ich habe zu ihr gesagt, dass sie doch nur angeben will, aber sie hat mir geschworen, dass es stimmt." Sie zögerte kurz. „Es war wahrscheinlich, wie er sich anzog und geredet hat. Sie hat mir erzählt, dass er genauso vornehm aussieht wie Master Kit und immer höflich zu ihr war, so als ob sie selbst eine Dame wäre."
Anna nickte. Es passte, dass Estelle in ihrer Einschätzung eines „Gentleman" mehr danach ging, wie ein Mann sich kleidete und wie er sprach, als nach seinem tatsächlichen gesellschaftlichen Rang. Für Mädchen wie Estelle wären wohl auch Anwaltsgehilfen und Tanzlehrer „Gentlemen".
Bislang hatte Anna immer angenommen, dass der Mann aus Lower Fenley sei, doch nun dachte sie, dass er auch ohne weiteres aus einem der umliegenden Dörfer kommen könne. Vielleicht war er die paar Meilen von Eddlesburrow oder Sedgwick hergeritten, um sich mit Estelle zu treffen. Anna konnte sich zwar nicht erklären, wie Estelle einen Mann kennengelernt hatte, der weiter weg lebte, aber allem Anschein nach war sie einfallsreicher und findiger gewesen als sie alle vermutet hatten.
Anna ahnte, dass Penny ihr nicht mehr würde erzählen können. Nun musste sie anderswo Erkundigungen einholen.
Am wahrscheinlichsten schien ihr, dass Estelles Familie von dem heimlichen Geliebten wusste. Sie würde der Familie ohnehin einen Beileidsbesuch abstatten müssen, und bei der Gelegenheit könnte sie auch gleich ein paar Fragen stellen.
Am darauffolgenden Nachmittag wollte Anna ihren Plan in die Tat umsetzen. Sie kam gerade mit ihrem Hut und ihren Handschuhen in der Hand die Treppe hinunter, als es an der Tür klopfte und einer der Hausdiener öffnete. Es war Lady Kyria.
„Mylady!" Anna hatte sich eben einen ihrer Handschuhe anziehen wollen und hielt nun inne. „Welch eine schöne Überraschung."
„Entschuldigen Sie bitte", erwiderte Kyria mit einem Blick auf Anna. „Sie wollen sicher gerade aufbrechen."
„Ja, ich wollte ins Dorf fahren, um Estelles Familie zu besuchen. Das kann allerdings noch ein wenig warten.
Möchten Sie nicht hereinkommen?"
„Oh nein, bitte ändern Sie meinetwegen nicht Ihre Pläne." Kyria schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort:
„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gerne begleiten. Mein Wagen steht vor der Tür, und ich möchte der Familie auch mein Beileid aussprechen. Ich kannte das Mädchen zwar nicht, aber da wir auf Winterset leben, erscheint es mir dennoch angebracht."
Anna war mit derlei gesellschaftlichen Verpflichtungen vertraut, hatte sie doch einen Großteil ihres Lebens damit zugebracht. „Ich bin mir sicher, dass die Familie sich sehr geehrt fühlen würde, Mylady."
„Bitte nennen Sie mich Kyria. Ich habe das ganze letzte Jahr in Amerika verbracht und weiß seitdem den Verzicht auf ,Lady dies' und ,Lady das' sehr zu schätzen."
„Gut, Kyria. Dann müssen Sie mich aber Anna nennen." Anna lächelte. Sie mochte Kyria und war sich sicher, dass sie beide gute Freundinnen hätten werden können, wenn ihre Beziehung zu Reed eine andere wäre.
Sie fuhren mit Kyrias offener Victoria-Kutsche ins Dorf und genossen den herrlichen Sommertag. Unterwegs hielten sie noch bei der Apotheke, wo Kyria ein Kopfschmerzpulver für Miss Farrington kaufte.
„Die Arme! Mir scheint, dass der Mord sie sehr aufgeregt hat", bemerkte Kyria. „Aber Ihr Bruder ist so nett zu ihr
- er konnte sie sogleich auf andere Gedanken bringen, als er sie gestern besucht hat. Heute Nachmittag wollen die beiden gemeinsam ausreifen."
„Wirklich? Davon weiß ich gar nichts." Erneut verspürte Anna heftige Besorgnis.
Sobald sie aus der Apotheke kamen, sahen sie Mr. Norton neben der Kutsche stehen. Der Anwalt verbeugte sich und lächelte über das ganze Gesicht. „Mylady, Miss Holcomb. Ich dachte mir gleich, dass dies nur Ihr Wagen sein
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