Das Geheimnis von Winterset
dass wir diese Theorie nicht unbedingt zu berücksichtigen brauchen.
Genauso unwahrscheinlich ist meiner Ansicht nach, dass die Morde von ein und derselben Person verübt wurden, denn der Betreffende müsste jetzt schon so alt sein, dass er kaum noch die Kraft für derlei Taten hätte."
Und das, dachte Anna insgeheim erleichtert, schloss ihren Onkel aus dem Kreis der Verdächtigen aus, denn er war damals, als die ersten Morde geschahen, noch ein kleiner Junge von erst sieben oder acht Jahren gewesen.
Natürlich war es dennoch möglich, dass ihn die Erzählungen von dem Verbrechen als Kind so beeindruckt hatten, dass sie später Bestandteil seiner Wahnvorstellungen wurden ...
Sie blätterte in dem Buch vor und zurück, um die beiden Zeichnungen miteinander zu vergleichen. Im Anschluss las sie noch einmal aufmerksam die Notizen durch, die sich der Doktor zu dem ersten Fall gemacht hatte. Dabei stach ihr eine winzige Bemerkung am unteren Rand der Seite ins Auge.
„Sehen Sie nur. Er schreibt hier, dass sie als Dienstmädchen auf Winterset gearbeitet hat."
„Was?" Reed beugte sich zu der Stelle herunter, auf die Anna mit dem Finger zeigte. „Susan Emmett, ein Zimmermädchen auf Winterset, wurde unter dem großen Baum bei Weller's Point aufgefunden."
Er sah Anna fragend an. „Nun, das ergibt zumindest einen Sinn. Wenn sie ein Dienstmädchen war, muss sie mit großer
Wahrscheinlichkeit hier oder auf Holcomb Manor gearbeitet haben. Sagten Sie nicht, Weller's Point wäre ein Pachthof der de Winters gewesen? Wie weit ist er von hier entfernt?"
„Nicht sehr weit. Und hier steht auch, dass es am Sonntagabend geschehen ist. Vielleicht hatte sie ja am Sonntag frei, hat ihre Familie besucht und befand sich gerade auf dem Weg zurück nach Winterset, als sie ihrem Mörder begegnete." Anna erschauderte bei dem Gedanken.
„Glauben Sie, dass es noch jemanden geben könnte, der sich an Susan Emmett erinnert?"
„Wir könnten versuchen, die Namen der Bediensteten von damals herauszufinden und hoffen, dass der eine oder andere von ihnen noch am Leben ist."
Reed nickte zustimmend, und erneut beugten sie sich über die Aufzeichnungen des alten Dr. Felton. Schließlich lehnte Reed sich seufzend in seinen Stuhl zurück. „Ich glaube, ich habe jetzt erst einmal genug an Informationen."
Er warf Anna einen kurzen Blick zu. „Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang?"
„Das ist eine gute Idee."
Sie gingen in den Garten hinaus, in dem nun bereits das Unkraut gejätet worden und die Bäume und Sträucher frisch beschnitten waren. Alles machte wieder einen recht ordentlichen Eindruck, wenngleich die Rosen immer noch wild wucherten und ihren schweren, verführerischen Duft verströmten.
Anna hatte ihre Hand in Reeds Armbeuge gelegt. Die Sonne schien warm auf ihren Rücken, und sie dachte, dass es eigentlich ein herrlicher Tag war, an dem nichts an die furchtbaren Verbrechen erinnerte, deren Zeugnis sie gerade in der Bibliothek in Augenschein genommen hatten. Noch unglaublicher schien es, dass erst vor ein paar Tagen zwei Morde in Lower Fenley geschehen waren.
Anna sog den betörenden Duft tief ein und seufzte so beglückt, dass Reed unwillkürlich lächelte und eine Rose für sie brach, sorgsam die Dornen abstreifte und ihr die Blume reichte. Für die Geste bedachte sie ihn mit einem dankbaren Blick und hielt die duftende Blüte an ihre Nase. Plötzlich wurde sie von Gefühlen ergriffen, die ihr schier das Herz übergehen ließen. Das hätte ihr Leben sein können, dachte sie - lange Sommertage, die sie gemeinsam mit Reed verbrachte, Spaziergänge im Garten, bei denen sie sich an der Hand hielten, während sie angeregt miteinander sprachen. Vielleicht tollten auch Kinder durch den Garten ... Sie stellte sie sich fröhlich und intelligent vor, voller Fragen, ein wenig wie die Zwillinge mit ihrem dunklen, zerzausten Haar, dafür aber mit Reeds silbrig grauen Augen ...
Die Vorstellung zog sie in ihren Bann und war so verlockend, dass sie vor Sehnsucht fast laut geseufzt hätte. Aber sie wusste ja, dass sie damals genau richtig gehandelt hatte. Sie hatte getan, was sie tun musste, ihr war keine andere Wahl geblieben. Doch nun wurde ihr schmerzlich bewusst, wie viel sie mit ihrer Entscheidung aufgegeben hatte.
Gerade schlenderten sie durch einen dicht mit wildem Wein umrankten Bogen, da tauchte plötzlich eine Gestalt wie aus dem Nichts vor ihnen auf.
„Was zum Teufel!", stieß Reed aus. „Oh, Grimsley. Sie haben uns vielleicht
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