Das Geheimnis von Winterset
Sie empfand. Vielleicht war ich ja vor Liebe blind gewesen und hatte deshalb nie bemerkt, wie sehr Sie sich eigentlich in meiner Gesellschaft langweilten. Ich kam zu dem Schluss, dass Sie nur mit mir gespielt hätten, mich ermutigten, um dann mein Herz grausam zu brechen. Ich war voller Wut und Schmerz und beschloss, nie wieder hierher zurückzukehren, um Sie nie wieder sehen und all das erneut durchmachen zu müssen ... "
Entsetzt hielt Anna sich die Hand vor den Mund und kämpfte mit den Tränen. Seine Worte taten ihr in der Seele weh. „Es tut mir leid", flüsterte sie. „Es tut mir so unendlich leid! Das wollte ich nicht. Ich war einfach zu leichtfertig und unbedacht."
„Nein. Ich glaube, dass Sie zu ehrlich waren. Mein Schmerz war damals zu groß, als dass ich über die wahren Gründe hätte nachdenken können. Aber jetzt glaube ich Ihren Beteuerungen nicht mehr."
„Wie bitte?" Anna zog verdutzt die Augenbrauen in die Höhe. „Wollen Sie damit sagen, ich hätte Sie angelogen?"
„Ja", erwiderte er unumwunden, „genau das meine ich."
„Ist Ihre Eitelkeit wirklich so maßlos?" Anna bemühte sich, empört zu klingen. „Glauben Sie denn, dass keine Frau Ihnen widerstehen könnte? Dass alle Frauen bereitwillig Ihrem Charme erliegen und dankbar in Ihre Arme sinken?"
„Nein, allerdings bin ich auch nicht mehr so dumm wie einst. Während der letzten Tage haben wir wieder miteinander geplaudert und gelacht, wie wir es damals getan haben. Ich habe bemerkt, wie Sie mich anlächeln, ich habe Ihre Lippen auf den meinen gespürt - Sie wollen mich ebenso sehr wie ich Sie will."
„Es ist alles ein Missverständnis!", rief Anna und spürte zunehmende Verzweiflung in sich aufsteigen. „Es war alles mein Fehler! Ich hätte nie ... "
„Was hätten Sie nie?", drängte Reed und packte sie bei den Schultern. „Sie hätten nicht schwach werden dürfen?
Sie hätten mir nie zeigen dürfen, was Sie wirklich für mich empfinden? Verdammt noch mal, Anna, was ist denn los mit Ihnen? Warum verschweigen Sie mir Ihre wahren Gründe und rennen stattdessen vor mir davon?" Seine Finger gruben sich in ihre Schultern. „Warum haben Sie meinen Heiratsantrag abgelehnt?"
„Hören Sie auf! Bitte ... lassen Sie mich gehen!" Anna konnte ihre Tränen nun nicht länger zurückhalten.
„Sagen Sie mir endlich, warum Sie mich abgewiesen haben!", beharrte er zornig.
„Das kann ich nicht!", schluchzte Anna.
„Sie können es nicht?", wiederholte er ungläubig, und mit einem Schlag schien all sein Ärger verflogen zu sein. Er ließ ihre Schultern los und ließ seine Arme sinken. „Sie wollen es mir nicht sagen. Anna, ich habe Sie von ganzem Herzen geliebt. Ich hätte Ihnen alles gegeben und alles für Sie getan. Und von Ihnen bekomme ich nicht einmal eine ehrliche Antwort." Er wandte sich zum Gehen.
Ihr war ganz elend zumute. Sie verabscheute sich für das, was sie Reed angetan hatte - dennoch konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er sie nicht endlich in Ruhe ließ, sondern sie zwang, sich mit ihren Abgründen und ihrer eigenen Schwäche auseinanderzusetzen.
Reed blieb stehen und sah sich noch einmal nach ihr um. Sein Gesicht war angespannt, seine Augen glühten dunkel vor Leidenschaft. „Haben Sie mich denn nie geliebt, Anna? War ich so ein Narr, dass ich mir immer nur etwas vorgemacht habe?"
„Ich habe Sie geliebt." Ihre Stimme war heiser, nur mühsam brachte sie die Worte hervor, während Tränen ihr über die Wangen strömten. „Von ganzem Herzen habe ich Sie geliebt. Trotzdem konnte ich Sie nicht heiraten. Ich konnte es einfach nicht!"
„Aber warum?" Er eilte zu ihr. „Was hat Sie davon abgehalten?"
„Bitte nicht ..."
„Sagen Sie es mir." Seine Worte klangen schroff. „Sie haben mich angelogen, mir das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen. Dafür möchte ich zumindest die Wahrheit hören. Warum konnten Sie mich nicht heiraten?"
Anna wandte den Blick von ihm ab, denn es war ihr unerträglich, Reed bei dem, was sie zu sagen hatte, in die Augen zu sehen. „Weil mein Blut befleckt ist. Ich ... meine Familie ist verrückt."
Ein langes Schweigen folgte. Fassungslos sah er sie an.
„Wie meinen Sie das?", fragte er schließlich.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und blickte ihn an. „Es gibt erblichen Wahnsinn in meiner Familie."
„Wahnsinn?", wiederholte Reed verständnislos. Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Anna ... jede Familie hat ihre kleinen Eigenheiten. Meine Familie ist weithin bekannt als die
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