Das Geheimnis
brachte, und hatte seine Notdurft in den Eimer verrichtet, der in seiner behelfsmäßigen Zelle stand. Irgendwann jedoch hatte er den inneren Frieden nicht mehr wahren können. Mit Einbruch der Dunkelheit am Tag zuvor war der Raum immer düsterer und kälter geworden, da Kushidas Gefängniswärter ihm weder eine Lampe noch einen Kohlebrenner gegeben hatten, damit ihr Gefangener sich keinen Weg in die Freiheit brannte. Die Schmach, wie ein Tier im Käfig gehalten zu werden, peinigte den Leutnant, und der Zorn und die Furcht, die in seinem Innern wuchsen, ließen sein Verlangen nach Freiheit umso heftiger werden.
Zehn Schritte an der rückwärtigen Wand entlang, dann acht Schritte an einer Seitenwand nach vorn, dann zehn Schritte die Vorderwand entlang und an der Tür vorbei, vor der ein Soldat Wache stand, dann wieder acht Schritte bis zur hinteren Wand … Nachdem Kushida sich die Maße des Raumes eingeprägt hatte, brauchte er kein Licht mehr, um sich zu orientieren. In der Wand zur Rechten befand sich ein hohes mit Holz vergittertes Fenster, das einst den Blick in den Garten gewährt hatte, nun aber an einen weiteren Flur grenzte: Das Haus war im Laufe der Jahre immer größer geworden; neue Flügel waren hinzugekommen, um die ständig wachsende Familie aufnehmen zu können. Nun bewegte sich die flackernde Flamme einer Kerze zum Fenster und warf ihr trübes Licht in Kushidas Zelle. Das Gesicht eines alten, weißhaarigen Samurai erschien an der Fensteröffnung.
»Könnt Ihr nicht schlafen, junger Herr?« Es war Yohei, ein Gefolgsmann, dessen Familie seit Generationen in Diensten der Kushidas stand. Er lächelte, doch die Sorge um den Leutnant hatte die Falten und Runzeln noch tiefer in sein freundliches rundes Gesicht gegraben. »Nun, ich bekomme auch kein Auge zu, deshalb bin ich gekommen, um Euch Gesellschaft zu leisten.«
Die anderen Bewohner des Hauses, auch Kushidas Eltern, hatten den Leutnant gemieden, seit man ihn hergebracht hatte. Sie hielten ihn des Mordes für schuldig und wollten seine Schande nicht teilen. Yohei jedoch hatte Kushida stets wie einen Sohn geliebt und sich seiner angenommen, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Auch jetzt war Yohei der Einzige, der Kushida regelmäßig besuchte. »Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte er. »Kann ich irgendetwas für Euch tun?«
»Nein.« Die Güte des alten Mannes ließ Kushidas Augen feucht werden. »Wie konnte das alles nur geschehen, Yohei?«, murmelte er mit schwacher Stimme.
»Das Schicksal stellt mitunter die seltsamsten Dinge an. Vielleicht strafen die Götter Euch für die Sünden Eurer Ahnen, wie ich Euch schon einmal sagte.«
Doch nachdem er stundenlang in sich gegangen war, konnte Kushida weder dem Schicksal noch einem seiner Ahnen die Schuld an den Übeln geben, die er durch sein eigenes Tun, seine eigene Geschichte heraufbeschworen hatte. Über die zeitliche Entfernung von 25 Jahren hinweg sah er vor seinem geistigen Auge die Schule, an der er die Kunst des Speerkampfs gelernt hatte, und hörte die Stimme seines Lehrers.
»Ihr müsst eure Kraft bündeln und sie auf die Fortentwicklung eurer Kampfkunst richten«, ermahnte sensei Saigo die Schüler. »Verschleudert eure Energie nicht in zerstörerischer Maßlosigkeit. Hört zu essen auf, bevor ihr satt seid, denn Hunger schärft die Wachsamkeit. Haltet euch vom Reisschnaps fern und meidet den Müßiggang, denn beides stumpft den Geist ab und schwächt den Körper. Vor allem aber wehrt euch gegen das Verlangen, eure fleischlichen Gelüste zu befriedigen. Der Speer ist eure Männlichkeit! Nur durch ihn findet ihr wahre Erfüllung.«
Es war der sehnlichste Wunsch des jungen Kushida gewesen, ein großer Speerkämpfer zu werden, und so hatte er sich streng an die Anweisungen seines Lehrers gehalten. Eines Tages – Kushida war zwölf Jahre alt gewesen – hatte er in der Schreibstube seines Vaters ein Buch mit shunga entdeckt, erotischen Zeichnungen. Auf dem Einband war eine wunderschöne nackte Frau zu sehen gewesen, die mit einem Samurai Geschlechtsverkehr hatte. Eine heftige, nie gekannte Erregung überfiel Kushida. Er griff unter seinen Kimono, streichelte sein Glied, und seine Hände begannen ganz von selbst mit einer Bewegung, die sie nie gelernt hatten. Aus Erregung wurde lustvolle Ekstase, gefolgt von Furcht und Schuldgefühlen. Er war unbeherrscht gewesen, maßlos, hatte seine Kraft verschleudert, die Disziplin dem Vergnügen geopfert und damit gegen eines der wichtigsten Gebote von
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