Das Geheimnis
müssen. Ein schier unglaubliches Glücksgefühl durchströmte sie. Reiko genoss den Triumph des Augenblicks, stand regungslos da, schaute stumm auf Sano hinunter und wagte kaum zu atmen. Sano wartete auf ihre Entscheidung und versuchte verzweifelt, in ihrer Miene zu lesen. Doch der Gefühlssturm in Reikos Innerem war so heftig, dass sie kein Wort hervorbrachte; deshalb antwortete sie auf die einzig mögliche Art und Weise: Sie streckte Sano die Hände entgegen.
Tiefe Freude erhellte Sanos Gesicht, als seine warmen und kräftigen Hände die ihren umschlossen. Er erhob sich und blickte nun seinerseits auf sie hinunter und schaute ihr in die Augen. Eine Ewigkeit verging, während sie einander stumm erforschten und Millionen unausgesprochener Gedanken austauschten. Reiko übermittelte Sano schweigend ihre Liebe, während er ihr Freiheit und Geborgenheit versprach. Eine Vision der gemeinsamen Zukunft schimmerte zwischen ihnen, verschwommen noch, aber strahlend. Schließlich stieß Sano einen Seufzer aus, in dem sich Erleichterung und Sorge mischten.
»Es wird nicht einfach«, sagte er. »Wir beide müssen uns ändern. Das braucht Zeit – und Geduld. Aber ich will es versuchen, wenn du es auch willst.«
»Ja, das will ich«, flüsterte Reiko.
Sano trat näher an sie heran und legte behutsam die Hand unter ihr Kinn. Reiko spürte sein Verlangen und hörte seinen immer rascher werdenden Atem. Sie wusste, dass nun die erste Probe für sie beide kam, was die körperliche Seite ihrer Ehe betraf. Schließlich konnten sie nicht immer wie zwei Soldaten sein, die Seite an Seite in die Schlacht marschierten. Das Gleichgewicht der Macht zwischen ihnen würde sich immer wieder verlagern; mal würde der eine die Vorherrschaft haben, mal der andere. Was die körperliche Liebe betraf, besaß Sano die Vorteile des Alters, der Kraft und der Erfahrung. Also war es an Reiko, ihm als Erstem die Herrschaft zu überlassen, zumal die Macht ihres eigenen Verlangens ihren instinktiven Widerstand schwächte. Die Begierde war wie ein unstillbarer Hunger. Stürmisch drängte sie sich an ihn.
Sano legte die Arme um sie. Reiko sah, wie sich in seinem Gesicht die Lust spiegelte; sie spürte seine Erektion und das heftige Pochen seines Herzens. Furcht stieg in ihr auf. Doch Sano streichelte ihr Haar, ihren Hals, ihre Schultern ganz behutsam und voller Zärtlichkeit. Er hielt sich zurück, da er ihre Ängste verstehen konnte. Von diesem Verhalten ermutigt berührte Reiko die bloße Haut unter dem Kragen seines Kimonos, während seine Hände ihre Taille streichelten. Die Blicke ineinander versenkt, bewegten sie sich in Richtung Futon, ohne dass Reiko hätte sagen können, ob Sano die treibende Kraft dabei war, oder sie selbst.
Sie ließen sich auf den Futon sinken. Sano zog Reiko die Kämme aus dem Haar, sodass die Flut ihres Haares sich ausbreitete. Bereitwillig ließ sie zu, dass seine Hände ihre Schärpe lösten, doch als er ihr Kimono und Unterkimono abstreifen wollte, wand sie sich aus seinem Griff. Noch nie hatte ein Mann sie nackt gesehen, und sie hatte Furcht vor seinen musternden Blicken, vor allem, solange er selbst bekleidet war.
Behutsam löste sich Sano von ihr. »Verzeih«, sagte er. Als hätte er Reikos Gedanken gelesen, band er seine eigene Schärpe los und zog seinen braunen Kimono und die weiße Unterkleidung aus. Fasziniert betrachtete Reiko seinen Leib.
Narben verunstalteten die gebräunte Haut über seinen langen schlanken Muskeln, der breiten Brust und dem flachen Bauch. Die Haut auf seinen Waden hingegen war rosa: Brandwunden, die gerade erst verheilten. Nackt bis auf den Lendenschurz, sah Sano wie ein Überlebender vieler Kriege und Feuersbrünste aus – ein Anblick, der bei Reiko Zärtlichkeit und Schmerz zugleich erweckte. Vorsichtig berührte sie eine lange, dunkle Narbe dicht unter Sanos rechtem Schlüsselbein.
»Woher stammt das?«, fragte sie.
Mit reumütigem Lächeln antwortete er: »Aus Nagasaki. Eine Pfeilwunde.«
»Und die Brandwunden?«
»Ein Mann, der einen holländischen Händler erschossen hatte, wollte meinen Ermittlungen in dem Mordfall ein Ende bereiten, indem er mein Haus anzündete.«
Reiko berührte ein lange Linie runzeliges, faltiges Fleisch, die sich Sanos linken Oberarm entlangzog. Unverkennbar war es eine schlimme Wunde gewesen. »Und woher stammt das hier?«
»Ein Andenken an den Bundori-Mörder.«
»Und das hier?« Behutsam fuhr Reiko mit der Fingerspitze über andere Narben auf Sanos
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