Das Geheimnis
werde Euch heute verlassen.«
Und einen abgeschiedenen Ort suchen, an dem ich seppuku begehen kann, um meine Ehre wiederherzustellen, fügte er in Gedanken hinzu.
»Mach dich nicht lächerlich!« Erschrecken schwang in Sanos Stimme mit, und Furcht spiegelte sich in seinen Augen: Er ahnte Hiratas Absicht. »Du hast einen schweren Fehler begangen, aber es war dein erster, seit du in meinen Diensten stehst. Ich werde dich nicht entlassen, und ich verbiete dir zu gehen!«
Ruhiger fügte er hinzu: »Du hast dich selbst härter bestraft, als ich es je könnte. Ich vergebe dir, also vergib dir auch selbst. Wir haben keine Zeit, um Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Ich brauche dich. Du musst für mich ins Hafenviertel und feststellen, ob du irgendwelche Spuren finden kannst, was den Mord an Choyei betrifft. Anschließend suchst du den Ort auf, an dem der Dolch auf Harume geschleudert worden ist. Vielleicht gibt es dort Hinweise, die uns zum Mörder führen.«
»Jawohl, sôsakan-sama. « Erleichterung löste die Spannungen in Hiratas Brust; er konnte wieder frei atmen. Sano gab ihm eine weitere Chance! »Ich danke Euch.«
Doch die Schuldgefühle blieben. Widersprüchliche Gefühle rangen in Hirata um die Vorherrschaft. Er musste wieder gutmachen, was er an Schwierigkeiten verursacht hatte. Konkubine Ichiteru hatte beinahe das Wichtigste in seinem Leben zerstört: die Verbundenheit zu seinem Herrn. Hirata war wütend auf diese Frau, die ihn zu einem willenlosen Werkzeug gemacht hatte, und er verspürte den heißen Wunsch nach Rache. Dennoch hoffte er, dass Ichiteru unschuldig war; nicht nur, weil ein Teil von ihm sie noch immer begehrte, sondern weil er sich so sehr in Ichiteru geirrt hatte, dass er nie mehr Vertrauen in sein eigenes Urteil haben konnte, sollte diese Frau eine Mörderin sein. Dann würde er sich nie wieder zutrauen, über Schuld oder Unschuld eines Menschen zu entscheiden – aus Furcht, Hinweise übersehen oder Fehler gemacht zu haben.
Mit aller Kraft zwang sich Hirata, klar und nüchtern zu denken. Er sagte: »Wir wissen, dass es ein Mann war, der Choyei niedergestochen hat; deshalb trägt Konkubine Ichiteru zumindest an diesem Verbrechen keine Schuld.« Hirata verdrängte den Gedanken, dass sie jemanden beauftragt haben konnte, das Gift in die Tusche zu mischen und später Choyei zu ermorden. »Aber vielleicht weiß sie irgendetwas über den Mord an Harume. Ich bitte um Eure Erlaubnis, Konkubine Ichiteru zur Rede stellen und die Wahrheit aus ihr herausholen zu dürfen.«
Statt darauf zu antworten, starrte Sano in die Ferne und beobachtete einen Ochsenkarren, der schwerfällig über die Straße rumpelte. Dann sagte er: »Hiermit befehle ich dir, dich von Konkubine Ichiteru fern zu halten. Du bist ihr gegenüber nicht mehr unbefangen, und die Strafe für eine Liebschaft mit einer Konkubine des Shôguns ist der Tod. Du darfst es nie wieder so weit kommen lassen. Reiko wird Ichiteru vernehmen. Achte auf mögliche Verbindungen, während du Nachforschungen über den Mord an Choyei und den Angriff auf Harume anstellst, aber halte dich von Konkubine Ichiteru fern.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es tut mir Leid.«
Eine neuerliche Woge des Schmerzes und der Scham flutete über Hirata hinweg. Sano vertraute ihm nicht mehr! Hätte er Ichiteru doch niemals kennen gelernt! Sein Wunsch nach Rache wurde schier übermächtig.
Sie gelangten an die Kreuzung der Hauptstraße mit der Fernstraße, die nach Norden aus Edo hinausführte. »Ich reite nach Asakusa«, sagte Sano. »Ich sehe dich dann später am Haus.« Er warf Hirata einen besorgten Blick zu. »Alles in Ordnung?«
»Ja, sôsakan-sama«, erwiderte Hirata und beobachtete dann, wie Sano davonritt. Aber nichts war in Ordnung; das würde erst wieder der Fall sein, wenn er Sanos Vertrauen zurückerlangt hatte. Als Hirata in Richtung des Hafenviertels Daikon ritt, gelangte er zu der Ansicht, dass es nur eine Möglichkeit gab, das alte Verhältnis zu Sano wiederherzustellen: Er, Hirata, musste herausfinden, wer Harumes Mörder war.
Nachdem er mehrere Stunden die Gegend durchstreift hatte, in der Choyei ermordet worden war, sanken Hiratas Hoffnungen auf Erlösung von seiner Schuld. Die Zimmer in den Häusern und Pensionen wurden von allein stehenden Männern besucht – Dock- und Hafenarbeitern –, die um diese Stunde bei der Arbeit waren, wie wahrscheinlich auch zum Zeitpunkt des Mordes an Choyei. Deshalb war der Täter unbeobachtet
Weitere Kostenlose Bücher