Das Geheimnis
angenehmer als hier.« Danzaemons Verhalten ließ erkennen, dass er sich über die Schäbigkeit seines kleinen Herrschaftsbereichs im Klaren war, sie aber ebenso klaglos hinnahm wie Sanos Autorität über ihn und seine Leute.
»Ja, bitte«, stimmte Sano ihm erleichtert zu.
Das Haus, zu dem Danzaemon seinen Besucher führte, war größer und in besserem Zustand als die anderen. Es besaß feste Wände aus Holz, ein unbeschädigtes Dach und intakte papierene Fensterbespannungen hinter den hölzernen Gittern. Danzaemons Stellvertreter nahmen draußen als Wachen Aufstellung, während Mura sich um Sanos Pferd kümmerte. Im Inneren des Hauses drängten sich Personen jeden Alters in der primitiven Wohnhalle – viel zu viele Menschen, als dass sie alle Familienmitglieder hätten sein können. Ein Blinder und zwei Krüppel saßen an eine Wand gelehnt. Mütter hielten Säuglinge in den Armen; die Kinder sahen zu zart und zerbrechlich aus, um in dieser Welt zu überleben. Die Männer waren offenbar gekommen, um sich bei Danzaemon Rat zu holen. Eine junge schwangere Frau verteilte Schüsseln mit Suppe. Als Sano das Haus betrat, wurden sämtliche Aktivitäten augenblicklich eingestellt. Die Erwachsenen warfen sich demütig nieder; sogar die Köpfe der Kleinkinder wurden von den Müttern behutsam auf den Boden gedrückt.
Danzaemon führte Sano in ein kleineres, leeres Zimmer, in dem primitive, aber makellos saubere Möbel standen: ein Schreibpult, eine Truhe und drei offene Schränke; in einem lagen gefaltetes Bettzeug und Kleidungsstücke; die beiden anderen enthielten Hauptbücher und Papiere, was den Schluss nahe legte, dass Danzaemon – das vermutlich einzige des Lesens und Schreibens kundige Mitglied dieser Gemeinschaft – der Arbeit mehr Zeit widmete als der Muße. Das Fenster gewährte den Blick auf einen Hof, auf dem mehrere Männer soeben einen Ochsen schlachteten. Offenbar versorgte Danzaemons Klan sich selbst, indem er Handel trieb; er missbrauchte seine führende Stellung also nicht dazu, aus den ihm Anvertrauten Geld herauszupressen. Sano war tief beeindruckt, welch große und vielfältige Verantwortung der junge eta- Anführer trug. Nur wenige Samurai hatten ebenso viele Aufgaben – wobei die Frage offen blieb, ob sie diese mit einer so offenkundigen Hingabe erledigten wie Danzaemon.
Vielleicht hatte Harume diese Eigenschaften Danzaemons ebenso bewundert wie sein Aussehen und sein Auftreten. Nie zuvor hatte Sano einen so deutlichen Beweis gesehen, dass der Charakter eines Menschen viel wichtiger war als sein gesellschaftlicher Rang.
Danzaemon kniete sich auf die Matte. Sano nahm den Platz ihm gegenüber ein. »Ihr seid gekommen, weil Ihr von meiner Beziehung zu Konkubine Harume erfahren habt«, sagte Danzaemon, der als eta nicht so weit ging, Sano, dem Samurai, Speis und Trank anzubieten; das wäre unerhört gewesen. »Ich weiß, dass ich damit ein unverzeihliches Verbrechen begangen habe. Ich habe den Tod verdient, und Ihr habt das Recht, diese Strafe zu vollziehen.« Die Lippen des eta- Anführers verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Aber wenn Ihr das tut, würdet Ihr nicht die Antworten bekommen, die Ihr gerne haben möchtet, nicht wahr?«
Trotz Danzaemons Selbstbeherrschung und seines ruhigen Tonfalls erkannte Sano Zeichen der Trauer: der Schmerz in den Augen, die Kummerfalten in den Mundwinkeln … Niemand betrauerte Harume so sehr wie dieser junge Mann.
»Die Liebe mag keine Entschuldigung sein, gegen das Gesetz zu verstoßen«, erwiderte Sano, »aber sie ist ein Grund, den ich verstehe.« Er selbst würde alles für Reiko tun, würde jede Gefahr eingehen, würde seine Treuepflicht gegenüber dem Shôgun, ja, seine Ehre als Samurai verraten. »Ich werde Euch nicht bestrafen, weil Ihr ein verbotenes Verhältnis hattet. Stattdessen werde ich versuchen, gerecht zu sein.«
Danzaemon holte tief Luft und stieß sie mit einem tiefen, zittrigen Seufzer wieder aus. Sano bemerkte, dass der eta- Anführer den Wunsch hatte, über seine Geliebte zu reden, auf der anderen Seite aber seine Leute und sich selbst nicht in Gefahr bringen wollte, indem er irgendetwas Folgenschweres sagte, das Sano vielleicht nicht dulden konnte. Schließlich aber siegte sein Verlangen, sich Sano mitzuteilen.
»Wir sind uns zufällig begegnet. Im Kannon-Tempel. In Asakusa.« Danzaemon redete stockend, wobei er auf seine im Schoß verschränkten Hände starrte. »Obwohl eine lange Zeit vergangen war, habe ich sie auf den ersten
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