Das Geheimnis
Aufmerksamkeit.
Er war dünn, fast hager, mit sehnigem Körper und harten, drahtigen Muskeln. An seinem Hals standen die Sehnen wie Taue hervor. Sein Gesicht war schmal und scharf geschnitten; der dünne Mund mit den zusammengepressten Lippen verriet Härte und Entschlossenheit. Sein Haar war dicht, kurz geschnitten und straff aus der Stirn nach hinten gekämmt. Den Kopf hoch erhoben, die Schultern gerade, strahlte der Mann eine Aura von Kraft und Würde aus, die einen seltsamen Kontrast zu seiner abgerissenen, verblichenen Kleidung und seinem Status als eta bildete. Die zwei Schwerter an seiner Hüfte ließen erkennen, um wen es sich handelte.
Danzaemon, der Anführer der Ausgestoßenen, kniete nieder und verneigte sich. Seine beiden Begleiter taten es ihm gleich. Doch während die Geste bei ihnen demütig wirkte, machte Danzaemons würdevolle Ausstrahlung sie zu einem Ritual, das nicht nur ihn selbst, sondern auch Sano ehrte. Die Arme zu den Seiten ausgestreckt, den Kopf gesenkt, sagte er: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr.« Seine ruhige Stimme war respektvoll, doch kein bisschen unterwürfig.
»Bitte, erhebt Euch.« Beeindruckt von der stolzen Haltung des eta- Führers, die jedem Samurai zur Ehre gereicht hätte, stieg Sano vom Pferd. »Ich brauche in einer wichtigen Angelegenheit Eure Hilfe«, sagte er höflich zu Danzaemon.
Der Anführer der eta erhob sich mit kraftvoller Anmut. Auf seinen Befehl hin taten seine Stellvertreter es ihm nach, hielten die Köpfe aber gesenkt, während Sano den eta- Führer von Kopf bis Fuß musterte. Zu seinem Erstaunen erkannte Sano, dass Danzaemon kaum älter als 25 sein konnte; doch er besaß die Augen eines Mannes, der eine ganze Lebensspanne voller Elend und Armut, Leid und Gewalt gesehen hatte. Eine lange, schlecht verheilte Narbe, die über seine linke Wange verlief, ließ Danzaemons Überlebenskampf in dieser rauen und gnadenlosen Welt der Ausgestoßenen erkennen. Er war auf eine wilde, verwegene Art gut aussehend, und Sano verstand, weshalb dieser Mann eine solche Anziehungskraft auf Harume ausgeübt hatte.
Mura stellte die Männer einander vor. »Ich untersuche den Mord an der Konkubine des Shôguns, der ehrenwerten Harume«, sagte Sano dann.
Kaum war Harumes Name gefallen, erschien Wachsamkeit in den Augen des eta- Führers: Er wusste, weshalb Sano gekommen war. Seine Stellvertreter nahmen eine angespannte Haltung ein, lösten die Schlaufen, mit denen Knüppel an ihren Schärpen befestigt waren, und rückten auf Sano vor. Offensichtlich glaubten sie, er wäre gekommen, um Danzaemon zu töten, weil dieser ein Verhältnis mit der Konkubine des Shôguns gehabt hatte. Wenngleich der tätliche Angriff auf einen Samurai mit dem Tod bestraft wurde, waren sie bereit, ihren Anführer zu verteidigen.
In einer beschwichtigenden Geste hob Sano die Hand. »Ich bin nicht gekommen, um jemand ein Leid zu tun, sondern um Danzaemon ein paar Fragen zu stellen.«
»Lasst ihn!«, befahl Danzaemon seinen Männern mit der Autorität eines befehlshabenden Generals.
Die Männer wichen zurück, wenngleich Sano noch immer ihre Feindseligkeit spüren konnte; schließlich zählte er zur gefürchteten Kaste der Samurai. Sano blickte Danzaemon an. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
»Ja, Herr. Und ich werde mein Bestes tun, um Euch zu helfen.«
Danzaemon sprach noch immer mit der leisen, respektvollen Stimme, mit der er Sano begrüßt hatte. Seine Ausdrucksweise war kultivierter, als Sano erwartet hatte; vermutlich war dies auf Danzaemons häufige Kontakte mit Beamten im Range von Samurai zurückzuführen. Sano bemerkte, wie er nun seinerseits von dem eta- Anführer gemustert und abgeschätzt wurde; es war wie ein gegenseitiges Beschnuppern von zwei Leittieren zweier Herden. Eine große Gruppe eta versammelte sich und beobachtete das Geschehen. Sano spürte bei diesen Menschen eine Ehrfurcht vor ihrem Anführer, die der tiefen Achtung gleichkam, wie Gefolgsleute sie ihrem Fürsten gegenüber empfanden. Als Sano den eta- Anführer nun über die Schranken gesellschaftlicher Schichten und unterschiedlicher Lebenserfahrungen hinweg anschaute, erkannte er, dass er und dieser Mann unter anderen Umständen Kameraden, ja Freunde hätten werden können. Danzaemon nickte leicht und lächelte, als dächte er ähnlich.
»Ihr seid ein Freund von Doktor Ito«, sagte er – eine Feststellung, die ihr gutes Verhältnis endgültig besiegelte. »Begleitet mich zu meinem Haus. Dort ist es
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