Das Geheimnis
Blick wiedererkannt. Und sie erkannte mich ebenfalls.«
»Ihr habt Euch zuvor schon gekannt?«
»Ja. Schon seit wir Kinder waren. Mein Onkel nahm mich jeden Monat mit nach Fukagawa, wo wir am Strand nach Schalentieren gesucht haben. Dabei lernte er Harumes Mutter kennen und wurde ihr Freier. Wir sind immer zu ihrem Hausboot gegangen. Während die Erwachsenen drinnen waren, haben Harume und ich draußen gespielt.«
Ein leichtes, zärtliches Lächeln legte sich auf Danzaemons Lippen. »Harume war hübsch und zierlich, aber auch zäh. Sie war sechs Jahre jünger als ich, fürchtete sich jedoch vor nichts. Ich habe sie gelehrt, wie man mit Steinen wirft, mit Stöcken kämpft und schwimmt. Dass ich ein eta bin, hat sie nie gestört. Wir waren wie Bruder und Schwester. Wenn ich mit ihr zusammen war, konnte ich alles … alles andere vergessen.«
Er hielt die Hände ausgestreckt, die Handflächen nach oben gerichtet, als wolle er eine Last entgegennehmen – eine beredsame Geste, die erkennen ließ, dass Danzaemon schon als Junge gewusst hatte, welch unglückliches Schicksal ihn als eta erwartete. »Dann starb Harumes Mutter, und sie ging fort, um bei ihrem Vater zu leben. Ich dachte, ich würde sie nie wieder sehen.«
Weil Danzaemon einer der Spielgefährten Harumes gewesen war, die zur Unterschicht zählten – jene Kinder, von denen Jimba seine Tochter getrennt hatte, überlegte Sano. Aber der Pferdehändler hatte nicht mit der Macht des Schicksals gerechnet.
»Als Harume und ich uns auf dem Begräbnisplatz trafen, schien es zuerst so, als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen«, fuhr der eta- Anführer fort. »Wir haben uns unterhalten wie damals in Fukagwa und waren überglücklich, uns wiederzusehen.« Danzaemon kicherte freudlos. »Aber natürlich war nichts mehr wie früher. Harume war kein kleines Mädchen mehr, sondern eine schöne Frau – und die Konkubine des Shôguns. Und ich bin ein erwachsener Mann, der es besser hätte wissen müssen. Ich hätte ihr nicht nahe kommen dürfen. Doch unsere Gefühle füreinander kamen so plötzlich und waren so stark und wundervoll … Als Harume sagte, sie habe ein Zimmer im Gasthof, und mich fragte, ob ich mit ihr dorthin gehen wolle, konnte ich nicht Nein sagen.«
Sano staunte über die Kraft der gegenseitigen Anziehung, dass Harume und Danzaemon den Tod riskiert hatten, um ihre Begierde zu stillen. Ein jahrhundertealtes Tabu, besiegt von der viel stärkeren, triebhaften Macht des Sex.
»Es war nicht bloß Begierde«, fuhr Danzaemon fort, als hätte er Sanos Gedanken gelesen. Er beugte sich vor, und auf seinen scharfen Zügen war der Wunsch zu erkennen, dass Sano ihn verstehen möge. »Ich fand bei Harume das wieder, was sie mir all die Jahre zuvor gegeben hatte – die Möglichkeit zu vergessen, dass ich schmutzig und minderwertig bin, weniger als ein Mensch, ein Gegenstand der Verachtung. Wenn ich sie in den Armen hielt, kam ich mir wie ein anderer Mensch vor. Wie ein normaler, ein ganzer Mensch.« Er wandte den Blick ab und fügte traurig hinzu: »Es war das einzige Mal, dass ich das Gefühl hatte, geliebt zu werden.«
»Eure Leute lieben Euch ebenfalls«, erwiderte Sano und fragte sich, ob Danzaemons Leidenschaft zu Harumes Tod geführt hatte.
»Das ist nicht das Gleiche«, entgegnete der eta- Anführer mit schmerzlich verzerrtem Gesicht. »Meine Leute sind alle mit demselben Makel behaftet wie ich selbst. Unter der Oberfläche verachten wir eta einander genauso sehr, wie wir von den gemeinen Bürgern verachtet werden.«
Danzaemons Stimme war heiser vor Schmerz, als würde er sich sämtliche unausgesprochenen Gedanken seines ganzen Lebens aus dem Inneren seiner Seele reißen. Vielleicht war er noch niemandem begegnet, der ihm hatte zuhören wollen oder der fähig gewesen war, seine Einsichten zu würdigen. »Selbst meine Frau, die ich mit Harume betrogen habe, kann mir nicht geben, was Harume mir gab – jene Art Liebe, die den Hass auf mich selbst gemildert hat, den Hass auf mich als eta. «
Sano hatte bislang nicht gewusst, dass die Ausgestoßenen selbst die gesellschaftlichen Vorurteile teilten. Dieser Fall hatte ihm die Augen geöffnet für Welten, die neben der seinen existierten, und für seine unwissentliche Beteiligung an menschlichem Elend.
»Weshalb hat Harume sich auf die Affäre mit Euch eingelassen?«, fragte er.
Zorn loderte in den Augen des eta- Anführers auf, doch seine bewundernswerte Selbstbeherrschung ließ ihn rasch wieder
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