Das Geheimnis
von sôsakan Sano dabei sein zu können. In alten Zeiten waren weibliche Samurai an der Seite ihrer Männer in die Schlacht geritten. Reiko musste an den Vorfall denken, der ihren Hochzeitsfeierlichkeiten ein so plötzliches Ende bereitet hatte. Seither war sie so sehr mit eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass sie kaum einen Gedanken an Sanos Fall verschwendet hatte; nun aber regte sich ihr Interesse.
»Vielleicht könnte ich ihm bei den Nachforschungen über den Tod von Konkubine Harume helfen«, sagte sie nachdenklich.
Wie ein Schatten legte sich Sorge über das Gesicht Magistrat Uedas. »Reiko-chan.« Seine Stimme klang freundlich, aber bestimmt. »Du bist klüger als viele Männer, aber du bist noch jung und unerfahren, und du vergisst, dass deine Möglichkeiten stark eingeschränkt sind. Sobald der Hof des Shôguns in irgendeinen Fall verwickelt ist, wird dieser zu einer äußerst gefährlichen Angelegenheit. Und sôsakan Sano würde es gar nicht gefallen, wenn du dich in seine Dinge einmischst. Außerdem – was könntest du als Frau schon tun?«
Der Magistrat erhob sich und führte Reiko aus der Villa bis zum Tor, wo ihr Gefolge wartete. »Geh nach Hause, Tochter. Sei dankbar, dass du nicht für deinen Reis schuften musst wie andere Frauen, die nicht so viel Glück haben. Gehorche deinem Gatten, denn er ist ein guter Mann.« Schließlich gab er Reiko sinngemäß den gleichen Ratschlag wie O-sugi: »Du musst dein Schicksal hinnehmen, willst du nicht daran zerbrechen.«
Widerwillig stieg Reiko in die Sänfte. Als sie den bitteren Farbstoff auf den Zähnen schmeckte, legte sich ein trauriges Lächeln auf ihre Lippen. Wie klug ihr Vater war, wie umsichtig.
Doch Reiko besaß die gleiche Intelligenz, den gleichen Mut und die gleiche Entschlossenheit, die ihren Vater zum Magistrat von Edo gemacht hatten – ein Amt, das sie von ihm geerbt hätte, wäre sie keine Frau gewesen. Als die Sänftenträger Reiko schnellen Schrittes zur Straße brachten, rief sie ihnen durch das kleine Fenster zu: »Halt! Geht zurück!«
Die Träger gehorchten, und Reiko stieg aus der Sänfte und eilte wieder ins Haus ihres Vaters und in ihr einstiges Zimmer. Sie holte ihre beiden Sa muraischwerter aus dem Schrank – Lang- und Kurzschwert –, deren Hefte und Scheiden mit goldenen Einlegearbeiten verziert waren. Dann kehrte sie zur Sänfte zurück und machte sich mitsamt Gefolge auf den Rückweg zum Palast, wobei sie die ganze Zeit über die kostbaren Waffen an die Brust drückte – die Symbole von Ehre und Abenteuer, die alles verkörperten, was Reiko war und was sie sein wollte.
Irgendwie würde es ihr gelingen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, und den ersten Schritt in diese Richtung würde sie tun, indem sie ihre eigenen Ermittlungen über den rätselhaften Tod der Konkubine Harume aufnahm.
4.
I
n den Elendsvierteln von Kodemmachô, unweit des Flusses Sumida im nordöstlichen Teil des Händlerviertels Nihonbashi, ragte der Gebäudekomplex des Gefängnisses von Edo mit seinen hohen Steinmauern, Wachtürmen und Giebeldächern wie eine bösartige Wucherung über den umliegenden Häusern auf. Sano ritt über die Brücke zum eisenbeschlagenen Eingangstor. Die Wachhäuschen waren mit Posten bemannt; doshin trieben bemitleidenswerte, angekettete Übeltäter ins Gefängnis, wo die Verhöre stattfanden, oder zerrten sie auf den Hinrichtungsplatz. Wie immer, wenn er sich dem düsteren Bauwerk näherte, hatte Sano das Gefühl, dass die Luft sich plötzlich abkühlte, als würde das Gefängnis von Edo sogar das Sonnenlicht abschrecken und den Gestank von Tod und Verfall verströmen. Doch Sano stellte sich freiwillig dieser Gefahr der spirituellen Beschmutzung, die der Kontakt mit dem Tod bewirkte – eine Gefahr, der andere Samurai aus dem Weg gegangen wären. In der städtischen Leichenhalle, die sich innerhalb der feuchten, kalten Mauern befand, hoffte er die Wahrheit über den Tod von Konkubine Harume zu erfahren.
Die Wachen öffneten Sano das Tor. Er stieg aus dem Sattel und führte sein Pferd über das Gelände, welches von den Kasernen der Wachmannschaften, von Höfen und Verwaltungsgebäuden umgeben war, bis er zum eigentlichen Gefängnisbau gelangte. Die Schreie und das Jammern der Häftlinge drang aus den eisenvergitterten Fenstern.
Sano führte sein Pferd auf den Hof hinter dem Gefängnisgebäude und band das Tier vor der Leichenhalle an, einem niedrigen Bauwerk mit grob verputzten Mauern und einem Dach aus fauligem
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