Das Geheimnis
Stroh. Dann holte er die eingewickelten Beweisstücke aus der Satteltasche, die er in Harumes Zimmer sichergestellt hatte, trat über die Schwelle und wappnete sich gegen die üblen Gerüche und den Anblick, die Dr. Itos scheußliche Arbeit mit sich brachten.
In dem großen Untersuchungsraum befanden sich steinerne Tröge, in denen die Toten gewaschen wurden; Schränke enthielten die Werkzeuge des Arztes, und in einer Ecke stand ein Podium, auf dem Bücher und Akten gestapelt waren. An einem der drei hüfthohen Untersuchungstische stand Dr. Ito und legte mehrere menschliche Knochen zu einem unfertigen Skelett zusammen. Mura, sein Helfer, reinigte Wirbelsäulenknochen, indem er sie in einem flachen Behälter unter fließendes Wasser hielt. Beide Männer blickten von ihrer Arbeit auf und verneigten sich, als Sano den Raum betrat.
»Ah, Sano-san. Willkommen!« Dr. Itos schmales, asketisches Gesicht hellte sich vor Freude auf, zeigte aber auch Erstaunen. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass Ihr gerade heute zu mir kommt. Wolltet Ihr heute nicht heiraten?«
Dr. Ito Genboku, Aufseher der Leichenhalle von Edo, hatte Sano dank seiner umfassenden wissenschaftlichen Kenntnisse schon bei mehreren Ermittlungen geholfen und war zugleich ein enger und aufrichtiger Freund des sôsakan – eine Seltenheit in den Zeiten der Tokugawa-Herrschaft, als Verrat und Intrigen an der Tagesordnung waren.
Trotz seiner 70 Jahre war Dr. Ito noch immer ein scharfsinniger und scharfäugiger Mann mit kurzem, dichtem weißem Haar, das sich nur über der Stirn ein wenig lichtete. Er trug einen langen, dunkelblauen Mantel über seinem hoch aufgeschossenen, hageren Körper. Einst war Dr. Ito der angesehene Leibarzt der kaiserlichen Familie gewesen, bis man ihn bei einem unverzeihlichen Verbrechen ertappt hatte: der Beschäftigung mit den verbotenen fremdländischen Wissenschaften, wobei er sich geheimer Kanäle bedient hatte, um über holländische Händler in Nagasaki Lehrbücher zu beziehen. Im Unterschied zu anderen rangakusha – Gelehrten, die der holländischen Sprache mächtig waren – hatte man Dr. Ito nicht mit Verbannung bestraft, sondern ihn dazu verurteilt, bis zu seinem Tod als Aufseher der Leichenhalle von Edo zu arbeiten. Wenngleich die Lebensbedingungen erbärmlich waren, konnte Dr. Ito hier ungestört seine Experimente und die Erforschung des menschlichen Körpers fortführen, ohne dass die Behörden ein Auge auf ihn hielten.
»Die Hochzeit fand heute Morgen statt, aber das Hochzeitsbankett und mein Urlaub müssen verschoben werden«, sagte Sano und legte sein Bündel auf einen leeren Tisch. »Und ich brauche wieder einmal Eure Hilfe.« Sano berichtete dem Arzt vom rätselhaften Tod der Konkubine Harume, vom Befehl des Shôguns, dass er, Sano, die Ermittlungen leiten solle und von seinem Verdacht, dass Harume einem Mord zum Opfer gefallen sei.
»Überaus interessant«, sagte Dr. Ito. »Natürlich werde ich Euch helfen, so gut ich kann. Zuerst aber möchte ich Euch zur Hochzeit beglückwünschen. Erlaubt mir, Euch ein kleines Geschenk zu machen … Mura, würdest du es bitte holen?«
Mura, ein kleiner Mann mit grauem Haar und kantigem, klugem Gesicht, stellte das eiserne Gefäß mit den Knochen zur Seite. Mura war ein eta, ein rechtloser Ausgestoßener der untersten sozialen Schicht. Die eta stellten unter anderem die Mannschaft des Gefängnisses und waren als Aufseher, Leichenträger, Folterknechte und Scharfrichter tätig. Außerdem übernahmen sie alle schmutzigen Arbeiten in der Stadt, etwa das Reinigen der öffentlichen Toilettenhäuser, das Einsammeln von Abfällen und die Bergung und Beseitigung der Leichen nach Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Erdbeben. Ihre auf Erbfolge beruhende Verbindung mit Berufen, die mit dem Tod zu tun hatten – beispielsweise dem des Metzgers oder des Gerbers –, machte die eta zu spirituell unreinen Menschen, die mit anderen Bürgern nicht in Kontakt kommen durften. Doch geteiltes Leid ließ mitunter ungewöhnliche Bande entstehen: Mura war Dr. Itos Diener und Vertrauter. Nun verbeugte der eta sich vor seinem Herrn und vor Sano, verließ den Untersuchungsraum und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Päckchen aus blauer Baumwolle wieder zurück, welches er Dr. Ito gab, der es dann an Sano weiterreichte.
»Mein Hochzeitsgeschenk für Euch«, sagte der Arzt.
» Arigatô, Ito-san.« Sano verneigte sich, nahm das Päckchen entgegen und wickelte es aus.
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