Das Geheimnis
es mit etwas Tee und ein paar Törtchen mit Kremfüllung, die Ihr so gerne mögt?« Reiko nickte; ihr standen die Tränen in den Augen. »Ich hole sofort welche«, sagte O-sugi.
Die Dienerin humpelte aus dem Zimmer; ihr Ehemann, ein brutaler Schinder, hatte ihr linkes Bein für immer verkrüppelt. Bei diesem Anblick wurde Reikos Trauer von wilder Entschlossenheit verdrängt. In diesem Augenblick schwor sie sich, dass sie niemals zulassen würde, durch ihre Ehe körperlich oder seelisch verkrüppelt zu werden. Sie würde nicht zur Gefangenen in diesem Haus werden! Sie würde nicht zulassen, dass ihre Begabungen ungenutzt und ihr Ehrgeiz ungestillt blieben. Sie würde leben!
Reiko erhob sich und nahm einen schwarzen Umhang vom Kleiderständer. Dann eilte sie zur Vordertür, durch die Sanos Bedienstete bereits die Hochzeitsgeschenke in die Villa trugen.
»Womit kann ich Euch dienen, Herrin?«, fragte der oberste Hausdiener.
»Ich brauche nichts«, antwortete Reiko. »Ich gehe aus.«
»Eine Dame darf den Palast nicht einfach so verlassen«, erklärte der Diener hochnäsig. »Das verstößt gegen das Gesetz.«
Er rief mehrere Hausmädchen und Soldaten herbei, die Reiko begleiten sollten. Dann ließ er eine Sänfte und sechs Träger kommen und half der jungen Frau in das reich geschmückte, mit Kissen gepolsterte Innere. Er bestimmte einen der Soldaten zum Befehlshaber der kleinen Eskorte und reichte ihm ein offizielles Schreiben, mit dem Reiko den Palast verlassen und wieder betreten durfte. »Was darf ich dem sôsakan sagen, wohin Ihr gegangen seid?«
Reiko war entsetzt. Mit einem Gefolge von 16 Personen, die Sano und alle anderen Bewohner des Palasts zu Edo zweifellos über jeden ihrer Schritte unterrichten würden, war sie wie eine Gefangene. »Ich möchte meinen Vater besuchen«, sagte sie schließlich und nahm ihre Niederlage hin.
In der Sänfte gefangen wurde Reiko an Wachtürmen und patrouillierenden Soldaten vorbei über die gewundenen, gepflasterten Gehwege des Palasts getragen. Der Befehlshaber der Eskorte zeigte an den Kontrollstellen Reikos Passierschein vor, worauf die Wachsoldaten die Tore öffneten und die Prozession hindurchließen, die sich hangabwärts bewegte. Berittene Samurai überholten die Sänfte in leichtem Galopp. Fenster in den überdachten Wehrgängen, die sich die Mauerkrone entlangzogen, gewährten flüchtige Blicke auf die Dächer der Stadt, die sich auf der Ebene unter dem Palast ausbreitete. Das Herbstlaub, das auf dem Fluss Sumida trieb, leuchtete in strahlendem Rot und Gelb. Vor dem Hintergrund des fernen Himmels im Westen zeichnete sich der ätherische weiße Kegel des Fujiyamas ab. Reiko jedoch sah all diese Schönheiten nur durch das kleine, schmale Fenster ihrer Sänfte. Sie seufzte.
Doch als sie und ihr Gefolge endlich durch das Haupttor waren und die Mauern der prunkvollen Anwesen der daimyo hinter sich gelassen hatten, besserte sich Reikos Stimmung. Hier, im Verwaltungsviertel Hibiya, im Süden des Palasts, wohnten und arbeiteten die hochrangigen Beamten der Stadt in ihren Villen, die ihnen zugleich als Amtssitze und Schreibstuben dienten. Hier hatte Reiko ihre glückliche Kindheit und Jugend verbracht, deren Ende sie nun so bitter bedauerte. Aber vielleicht war noch nicht alles verloren …
Vor Magistrat Uedas Anwesen stieg Reiko aus der Sänfte und ließ das gesamte Gefolge vor dem Tor auf sie warten, inmitten flanierender Würdenträger und vorübereilender Boten und Schreiber. Reiko näherte sich den Posten, die das überdachte Haupttor der Villa bewachten.
»Guten Tag, Fräulein Reiko«, wurde sie von den Männern begrüßt.
»Ist mein Vater daheim?«, fragte Reiko.
»Ja, aber er leitet gerade eine Gerichtsverhandlung.«
Es verwunderte Reiko nicht, dass der pflichtbewusste Magistrat sich sofort wieder an die Arbeit gemacht hatte, nachdem das Hochzeitsessen abgesagt worden war. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge der Stadtbewohner, der Polizisten und Verhafteten, die sich auf dem Hof vor dem langen, niedrigen Fachwerkgebäude versammelt hatten und darauf warteten, dass ihr Fall dem Magistrat vorgetragen wurde. Auf der anderen Seite des Hofes angelangt, eilte Reiko an den Schreibstuben vorbei und schlüpfte in ein winziges Zimmer, das sich unmittelbar neben dem niedrigen Gerichtsgebäude befand.
Das Zimmer – ein ehemaliger Vorratsraum – war kaum groß genug für die Tatami-Matte, die den Boden bedeckte. Der Raum besaß kein Fenster, sodass sein Inneres
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