Das Geheimnis
schummrig und die Luft stickig war. Doch in diesem Zimmer hatte Reiko einige ihrer glücklichsten Stunden verbracht. Eine der Wände bestand aus Brettern; durch die Ritzen hindurch konnte Reiko einen Blick in den angrenzenden Gerichtssaal werfen. Sie sah ihren Vater, der in seinen schwarzen Richterroben auf dem Podium Platz genommen hatte. Flankiert von zwei Schreibern saß er fast unmittelbar vor der Wand, hinter der Reiko sich versteckt hielt, mit dem Rücken zu seiner Tochter. Laternen erhellten die lange Halle, in welcher der Angeklagte mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf dem shirasu kniete, einer Fläche unmittelbar vor dem Podium, die mit weißem Sand bedeckt war, dem Symbol der Wahrheit. Polizisten, Zeugen und die Familie des Beklagten knieten in mehreren Reihen im Zuschauerbereich; die Saaltüren wurden von Posten bewacht.
Reiko kniete nieder, um die Verhandlung zu verfolgen, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Sie war von Gerichtsverhandlungen fasziniert, denn sie zeigten eine Seite des täglichen Lebens, die Reiko als Unbeteiligte gar nicht unmittelbar hätte erleben dürfen. Doch Magistrat Ueda hatte ihrem Drängen irgendwann nachgegeben und ihr erlaubt, die Verhandlungen aus ihrem Versteck zu verfolgen. Reikos Zunge fuhr über den abgebrochenen Schneidezahn, während sie den breiten Rücken ihres Vaters betrachtete und in zärtlicher Erinnerung lächelte.
»Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung vorzubringen, Geldverleiher Igarashi?«, fragte Magistrat Ueda.
»Ehrenwerter Magistrat, ich schwöre, dass ich meinen Teilhaber nicht ermordet habe«, sagte der Angeklagte, der sichtlich um Fassung rang. »Wir haben uns um die Gunst der Kurtisane Hyanzinthe gestritten, weil wir betrunken waren. Dann jedoch haben wir unseren Streit begraben.« Dem Angeklagten liefen die Tränen über die Wangen. »Ich habe meinen Teilhaber geliebt wie einen Bruder. Ich weiß nicht, wer ihn erstochen hat!«
Als sie damals über verschiedene Fälle sprachen, hatte Reiko den Vater durch ihre Menschenkenntnis sehr beeindruckt, und der Magistrat hatte die Meinung seiner Tochter schätzen gelernt. Nun flüsterte sie ihm durch die Ritzen zwischen den Brettern zu: »Der Geldverleiher lügt, Vater. Er ist immer noch eifersüchtig auf seinen Teilhaber. Und nun gehört das ganze Vermögen ihm allein. Du musst ihn in Bedrängnis bringen; dann zerbricht sein Widerstand, und er wird gestehen.«
Reiko hatte ihrem Vater bei Gerichtsverhandlungen auf diese Weise häufig Ratschläge erteilt, und Magistrat Ueda hatte sie befolgt und dabei große Erfolge erzielt. Nun aber spannten sich seine Schultern, und er wandte leicht den Kopf. Statt den Angeklagten weiter zu befragen, sagte er: »Die Verhandlung wird für kurze Zeit unterbrochen.« Damit erhob sich der Magistrat und verließ den Gerichtssaal.
Augenblicke später wurde die Tür zu Reikos Kammer geöffnet. Im Türeingang stand ihr Vater und blickte sie fassungslos an. »Tochter!« Er packte Reiko am Arm und führte sie den Gang hinunter in seine private Schreibstube. »Dein erster Besuch zu Hause hätte frühestens morgen stattfinden dürfen, und dein Mann hätte dich begleiten müssen. Du kennst den Brauch. Was also tust du hier allein? Stimmt etwas nicht?«
»Vater, ich …«
Plötzlich fiel die Mauer aus Trotz und Entschlossenheit in sich zusammen, die Reiko um sich herum errichtet hatte. Schluchzend erzählte sie ihrem Vater von ihren Befürchtungen, was die Ehe mit Sano betraf, und von ihren Träumen, die nun für immer unerfüllt bleiben mussten. Mitfühlend hörte Magistrat Ueda seiner Tochter zu; doch als sie geendet und sich wieder ein wenig beruhigt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Es war mein Fehler. Ich hätte dich nicht so erziehen dürfen, dass du nun mehr vom Leben erwartest, als eine Frau erwarten darf. Ich habe aus Dummheit und blinder Liebe zu dir so gehandelt, und das bedaure ich von ganzem Herzen. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Wir können nicht zurückgehen, nur nach vorn. In Zukunft wirst du keine meiner Gerichtsverhandlungen mehr beobachten oder mir bei der Arbeit helfen, wie ich es dir früher fälschlicherweise erlaubt habe. Dein Platz ist jetzt bei deinem Gatten.«
Selbst als Reiko sah, wie die Tür zu ihrer Jugend sich für immer schloss, schimmerte ein Silberstreif der Hoffnung am düsteren Horizont ihrer ungewissen Zukunft, denn Magistrat Uedas letzte Sätze riefen die Erinnerung an ihren Wunschtraum wach, bei den Abenteuern
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