Das Geheimnis
Ein flaches, rundes, etwa handflächengroßes Stück Schmiedeeisen kam zum Vorschein: ein tsuba, ein Stichblatt, das zwischen dem Griff und der Klinge eines Samuraischwerts befestigt wurde. In das Metall war eine filigrane Abwandlung von Sanos Familienwappen eingraviert: ein Kranich in Seitenansicht, mit anmutigem, langschnäbeligem Kopf, schlankem Körper – in dem sich die Öffnung für die Schwertklinge befand – und erhobenen Flügeln mit kunstvoll gravierten Federn. Bewundernd betrachtete Sano das Geschenk, wobei er mit den Fingerspitzen leicht über das Metall strich.
»Es ist bloß eine kleine, bescheidene Aufmerksamkeit«, sagte Dr. Ito. »Mura hat in der Stadt Altmetall gesammelt, und einer unserer Häftlinge war Kunstschmied, bevor man ihn des Diebstahls überführt und dazu verurteilt hat, hier im Gefängnis zu arbeiten. Er hat mir ein paar Nächte lang geholfen, das Stichblatt anzufertigen. Ich hätte Euch gern etwas Schöneres geschenkt …«
»Es ist wundervoll«, sagte Sano. »Solange ich lebe, werde ich es in Ehren halten.« Behutsam wickelte er das Stichblatt wieder in den Stoff und verstaute das Päckchen in seinem Hüftbeutel. Itos freundschaftliche Geste bewegte Sano tiefer als jedes der kostbaren Geschenke, welche er von Fremden erhalten hatte, die sich um ihres eigenen Vorteils willen bei ihm einschmeicheln wollten. Um das peinliche Schweigen zu beenden, das der Geschenkübergabe gefolgt war, öffnete Sano schließlich sein Bündel und berichtete Ito, unter welchen Umständen die Konkubine gestorben war. »Ihre Leiche kann leider erst später zu Euch gebracht werden. Ich halte es für durchaus möglich, dass Konkubine Harume vergiftet worden ist.« Sano holte die Lampen, die Weihrauchbrenner, den Krug mit Sake, die zwei Schalen, das Messer, das Rasiermesser und das Tuschefläschchen aus dem Bündel hervor. »Ich möchte gern wissen, ob sich Gift an einem dieser Gegenstände befindet.«
Auf Anweisung des Arztes holte Mura sechs kleine, leere Käfige aus Holz sowie einen größeren herbei, in dem sich sechs lebende Mäuse befanden. Dr. Ito stellte die Käfige nebeneinander auf den Tisch. In die ersten beiden stellte er eine Lampe und einen Weihrauchbrenner aus Konkubine Harumes Zimmer und zündete beides an. Dann öffnete er den großen Käfig, fing zwei Mäuse und setzte die zappelnden Tiere in die ersten beiden Käfige, die er dann mit Tüchern abdeckte.
»Sollte Gift im Weihrauch oder im Lampenöl sein, werden die Mäuse es mit dem Rauch einatmen«, erklärte Dr. Ito, »wohingegen wir durch die Tücher vor gefährlichen Dämpfen geschützt sind.«
Auch in den dritten Käfig kam eine Maus; dann stellte Ito den Krug und die zwei Schalen hinein, aus denen Konkubine Harume allem Anschein nach kurz vor ihrem Tod den Reisschnaps getrunken hatte, und gab ein paar Tropfen von Harumes Sake in eine der Schalen. Um das Rasiermesser auf Giftspuren zu überprüfen, schabte Dr. Ito bei einer weiteren Maus vorsichtig einen Streifen Fell vom Rücken ab; dann machte er mit dem Messer einen winzigen Einschnitt in den weichen Bauch des fünften Tieres. Schließlich setzte er die Mäuse in den vierten beziehungsweise fünften Käfig.
»Und nun zu der Tusche.« Ito holte eins seiner eigenen Messer aus einem Schrank. »Ich werde eine saubere Klinge benutzen, sodass wir jede Vergiftung durch äußere Einflüsse ausschließen können.« Er machte einen winzigen Einschnitt in den Bauch der sechsten Maus, zog den Stöpsel aus dem Fläschchen und pinselte ein wenig von der schwarzen Tusche auf die Wunde. Dann ließ er die Maus in den letzten Käfig fallen. »Und jetzt warten wir«, sagte er.
Sano und Dr. Ito beobachteten die Käfige. Aus den ersten beiden, die mit den Tüchern verhangen waren, drangen leise, kratzende Geräusche. Die dritte Maus schnüffelte am Reisschnaps; dann leckte sie die Tropfen auf, die Ito in die Schale gegeben hatte. Die Maus mit dem kahl rasierten Streifen auf dem Rücken huschte im Käfig umher, während die anderen ihre Wunden leckten. Plötzlich erklang ein schrilles Fiepen.
»Seht nur!« Sano wies auf einen der Käfige.
Die Maus, deren Wunde Dr. Ito mit der Tusche bepinselt hatte, wand sich von Krämpfen geschüttelt am Käfigboden, während ihre kleinen Krallen sich Halt suchend durch die Luft bewegten und ihr Schwanz hin und her schlug. Die winzige Brust hob und senkte sich heftig, während die Maus die Knopfaugen verdrehte. Das kleine, rosafarbene Maul öffnete und
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