Das Geheimnis
war, konnten Sano und Hirata sich nun eingehender mit den offiziellen Geschichten beschäftigen. Die Konkubinen hatten die engsten Verbindungen zu Harume gehabt; sie hatten am leichtesten Zugang zum Gemach der Ermordeten und damit zum Tuschefläschchen. Sano und Hirata brauchten die Hilfe von Fürstin Keisho-in und der otoshiyori, bevor sie mit den Konkubinen und Dienerinnen reden konnten.
Nachdem ihnen der Zugang zum Palastgebäude gewährt worden war, gingen sie an stillen, dunklen Schreibstuben vorbei zu den Privatgemächern des Shôguns. Die dort postierten Wachen erklärten Sano: »Seine Hoheit ist nicht zu sprechen, Herr. Er lässt Euch ausrichten, dass Ihr ihm morgen als Erstes Bericht erstatten sollt.«
»Sagt ihm bitte, dass wir keine Seuche zu befürchten haben«, entgegnete Sano; dann setzten er und Hirata ihren Weg fort und drangen tiefer in das Labyrinth des Palasts vor. Als sie sich dem Inneren Schloss näherten, war ein hohes Summen in der Stille zu vernehmen, das zu einer Explosion schriller Frauenstimmen wurde, als die Wachen den Besuchern die Türen öffneten, begleitet von den Geräuschen rennender Schritte, aufgeregtem Geschnatter, hellem Lachen, klatschendem Wasser, klirrendem Geschirr und zuschlagender Türen.
»Die Götter seien uns gnädig«, sagte Hirata und drückte die Hände auf die Ohren, während Sano erschrocken zusammenzuckte.
In den Stunden seit ihrem ersten Besuch war im Inneren Schloss offenbar wieder Normalität eingekehrt. Auf dem Weg zu den Privatgemächern der Fürstin Keisho-in, die sich in der Mitte des Inneren Schlosses befanden, gingen sie an Kammern vorüber, in denen sich hübsche, farbenprächtig gekleidete Konkubinen aufhielten, die ihr Essen zu sich nahmen, ihren Dienerinnen Befehle zuriefen, vor Spiegeln saßen und sich schminkten oder Karten spielten, wobei sie schimpften und lachten. Sano sah nackte Frauen, die in hohen hölzernen Badezubern saßen, sich abtrockneten oder sich von blinden Masseuren den Rücken kneten ließen. Sämtliche Frauen begegneten Sanos Blick mit einer Mischung aus schwacher Neugier und einer Gleichgültigkeit, in der sich die stoische Hinnahme ihres Schicksals widerspiegelte. Sano fühlte sich an die Kurtisanen im Vergnügungsviertel Yoshiwara erinnert; der einzige Unterschied schien darin zu bestehen, dass die Kurtisanen für jeden Mann zu haben waren, der den Preis für ihre Liebesdienste bezahlen konnte; die Konkubinen hingegen gehörten ausschließlich dem Shôgun. Jedes Mal, wenn Sano und Hirata an einem der Gemächer vorübergingen, verstummten augenblicklich sämtliche Gespräche, und die Frauen hielten in ihren Beschäftigungen inne, um sie sofort wieder aufzunehmen, sobald die Männer vorüber waren. Eine Hofbeamtin in grauem Umhang ging an der Seite einer männlichen Wache wachsam über die Flure. Im goldenen Käfig des Inneren Schlosses nahm das Leben seinen Fortgang, obwohl eine der Bewohnerinnen dieses Käfigs ermordet worden war.
Sano fragte sich, ob eine oder mehrere Frauen die Wahrheit über den Tod von Konkubine Harume kannten, ob sie vielleicht sogar wussten, wer ihr Mörder war. Vielleicht wussten es alle, einschließlich ihrer Herrin, der Mutter des Shôguns.
Die Tür zu den Privatgemächern der Fürstin Keisho-in, die sich am Ende eines langen Ganges befand, erinnerte an das Haupttor eines Tempels: massives, mit geschnitzten Drachen reich verziertes Zypressenholz. Über der Tür brannte eine Laterne, und zwei Wachsoldaten standen im diskreten Abstand von 20 Schritten wie Schutzgötter auf Posten. Als Sano und Hirata näher kamen, glitt die Tür zur Seite. Eine hoch gewachsene Frau trat hindurch und verneigte sich.
»Die Hofdame Chizuru, oberste Verwalterin des Inneren Schlosses«, sagte Hirata und stellte ihr Sano vor, der die otoshiyori mit Interesse musterte. Die Frau war Ende 40; ihr Haar, das auf dem Scheitel zu einem kunstvollen Knoten geflochten war, zeigte die ersten grauen Strähnen. Unter ihrem schmucklosen grauen Kimono verbarg sich ein Körper, so kräftig und muskulös wie der eines Mannes. Auch das kantige Gesicht der Hofdame war von fast männlichem Schnitt – ein Eindruck, der von dem kräftigen Kinn, den dichten, nicht rasierten Augenbrauen und dem Schatten eines Damenbarts auf der Oberlippe noch verstärkt wurde. Sano wusste, dass die höchste Pflicht der otoshiyori darin bestand, vor dem Schlafgemach von Tokugawa Tsunayoshi Wache zu halten, wenn dieser sich mit einer Konkubine vergnügte. Wie die
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