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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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anderen weiblichen Palastbeamten, so war auch Chizuru einst Konkubine gewesen – vermutlich die des Vorgängers von Tokugawa Tsunayoshi –, doch das einzige äußere Merkmal Chizurus, das fraulichen Charme besaß, war ihr Mund, der so anmutig und zart war wie der einer Kurtisane auf einem alten Holzstich. Die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtete sie Sano mit einem durchdringenden, strengen Blick, der ihn daran gemahnte, sich der Würde des Ortes angemessen zu verhalten.
    »Ihr könnt noch nicht zu Fürstin Keisho-in«, erklärte Hofdame Chizuru mit tiefer, aber durchaus angenehmer Stimme. »Der Fürst ist gerade bei ihr.«
    Also war der Shôgun bei seiner Mutter. »Wir warten«, sagte Sano. »Außerdem müssen wir auch mit Euch sprechen.«
    Als Hofdame Chizuru nickte, erschienen zwei jün gere Palastbeamtinnen. Ein wortloser Austausch – versteckte Blicke, Kopfnicken, ein Zucken der Lippen – fand zwischen ihnen und ihrer Vorgesetzten statt. In dieser für Sano so fremden Welt ging sogar die Verständigung anders vonstatten. Schließlich wandte Hofdame Chizuru sich wieder Sano und Hirata zu. »Ich muss mich um dringende Angelegenheiten kümmern. Aber ich bin gleich wieder zurück. Wartet hier.«
    »Jawohl, edle Dame«, murmelte Hirata, nachdem die otoshiyori gegangen war, flankiert von ihren Helferinnen. »Wenn wir Männer nicht aufpassen«, sagte er dann zu Sano, »werden eines Tages die Frauen das Land regieren.«
    Die otoshiyori hatte die Tür zu den Gemächern von Fürstin Keisho-in einen winzigen Spalt offen gelassen. Aus dem Innern drang Gemurmel. Neugier überkam Sano, und er riskierte einen Blick. In dem schummrig erleuchteten Zimmer warf eine Deckenlampe einen Strahlenkranz aus Licht um die Gestalt einer Frau, die auf seidenen Kissen saß. Sie war klein und pummelig und trug einen weiten Morgenmantel aus schimmernder goldener Seide, die mit einem blauen Wellenmuster bedruckt war. Langes schwarzes Haar, in dem keine Spur von Grau zu sehen war, fiel üppig bis über die Schultern der Frau und verlieh der 64-jährigen Keisho-in ein verblüffend jugendliches Aussehen. Sano konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie hatte sich über einen Mann in schwarzen höfischen Gewändern gebeugt, der in ihren fleischigen Armen lag.
    Tokugawa Tsunayoshi, Japans oberster Militärherrscher, drückte das Gesicht an die üppigen Brüste seiner Mutter. Er hatte die Knie an den Leib gezogen; seine Körperhaltung und sein rasierter Scheitel verliehen ihm das Aussehen eines verletzlichen Säuglings. Er schluchzte und jammerte mit kläglicher Stimme: »… bin so ängstlich, so unglücklich … Immer wollen die Leute etwas von mir … erwarten von mir, so stark und klug zu sein wie mein Ahnherr, Tokugawa Ieasu … Ich weiß nie, was ich tun oder sagen soll … Dumm bin ich, und schwach, und meines Amtes nicht würdig …«
    Fürstin Keisho-in tätschelte den Kopf ihres Sohnes und gab beschwichtigende Laute von sich. »Aber, aber, mein geliebter kleiner Junge.« Ihre krächzende Stimme strafte ihr jugendliches Aussehen Lügen und verriet ihr tatsächliches Alter. »Deine Mutter ist bei dir. Sie wird schon dafür sorgen, dass alles gut wird.«
    Tokugawa Tsunayoshis Körper entspannte sich, und sein klägliches Schluchzen verwandelte sich in ein wohliges Seufzen. Fürstin Keisho-in griff nach der langen, silbernen Pfeife, die auf dem Rauchtablett neben ihr lag, nahm einen tiefen Zug, hustete und sagte mit sanfter Stimme zu ihrem Sohn: »Um dir Glückseligkeit zu verdienen, musst du weitere Tempel bauen lassen, die Priesterschaft unterstützen und noch mehr religiöse Feiern abhalten.«
    »Aber das alles ist so schwierig, Mutter!«, jammerte der Shôgun. »Wie soll ich es jemals schaffen?«
    »Gib das Geld dem Priester Ryuko. Er wird sich um alles kümmern.«
    »Und was ist, wenn Kammerherr Yanagisawa oder der Rat sich dagegen aussprechen?« Tokugawa Tsunayoshis Stimme bebte vor Furcht, seine Untergebenen könnten Einspruch erheben.
    »Sag ihnen, deine Entscheidungen seien Gesetz«, erwiderte Fürstin Keisho-in.
    »Ja, Mutter«, seufzte der Shôgun.
    Als Schritte auf dem Gang erklangen, trat Sano rasch von der Tür weg. Es war ihm peinlich, was er beobachtet hatte, und es stieß ihn ab. Die Gerüchte stimmten offensichtlich, dass der Shôgun unter dem Einfluss seiner Mutter stand. Keisho-in war eine fanatische Buddhistin, die wiederum von dem ehrgeizigen, selbstherrlichen Ryuko beherrscht wurde, ihrem Lieblingspriester – und

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