Das Geheimnis
ohne amtliche Erlaubnis nachging und Kunden zu Diensten war, die sich die schönen, teuren Kurtisanen in den Freudenhäusern des Vergnügungsviertels Yoshiwara nicht leisten konnten. Kein Wunder, dass Harume sich inmitten der vornehmen Damen im Inneren Palast nicht wohl gefühlt hatte.
»Weshalb wurde Harume als Konkubine ausgewählt?«, fragte Sano.
»Der bakufa war der Ansicht, dass Abwechslung für den Shôgun hilfreich sein könnte, um die Herrschaft der Tokugawa zu sichern«, antwortete Chizuru.
Mit anderen Worten: Wenn Damen von vornehmer Herkunft dem Shôgun keinen Nachkommen schenken konnten, dann vielleicht ein kräftiges, gesundes Mädchen aus der Provinz. Und dieses Rezept hatte geholfen. Harume war tatsächlich schwanger geworden, wenn auch die Frage der Vaterschaft noch ungeklärt war.
»Was ist mit Harumes Vater?«, verlangte Sano zu wissen.
»Er heißt Jimba und wohnt in Bakurochô. Vielleicht kennt Ihr ihn.«
»Ja.« Sano nickte. Der Mann war ein bekannter Pferdehändler, der die Ställe der Tokugawa und vieler mächtiger daimyo belieferte. Auch Sano hatte schon Pferde bei Jimba gekauft.
»Die Gesandten des Shôguns haben Harume entdeckt, als sie nach neuen Konkubinen gesucht haben«, fuhr Hofdame Chizuru fort. »Sie sah gut aus, besaß ein wenig Bildung und ein angemessenes Auftreten. Sie machte einen vielversprechenden Eindruck. So kam sie in den Palast. Mehr geht aus den Unterlagen allerdings nicht hervor.«
Sano wollte die Eltern der ermordeten Konkubine später aufsuchen; dann würde er sicherlich mehr über Harume erfahren. Doch erst einmal würde der Schauplatz des Verbrechens vielleicht bislang unentdeckte Geheimnisse preisgeben. »Ich möchte mir noch einmal Harumes Gemach anschauen. Sind ihre Sachen noch dort?«
Hofdame Chizuru nickte. »Ja. Der Fußboden wurde gereinigt; ansonsten aber wurde alles so belassen, wie es bei ihrem Tod war. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, Harumes Habseligkeiten an ihre Familie zu schicken. Der Raum ist leer. Kommt.«
Chizuru erhob sich und führte Sano durch das Innere Schloss, das allmählich zum Leben erwachte. Palastbeamte und Wachen machten ihre morgendlichen Runden. Hausmädchen eilten über die Flure, Tabletts mit Tee oder Wasserschüsseln in den Händen. Hinter den Papierwänden raschelte Stoff, und schläfrige Frauenstimmen waren zu hören. Ein muffiger Geruch nach Bettzeug und schalem Duftwasser erfüllte die Luft. Doch der Flur vor Harumes einstigem Gemach war leer. Sano dankte Hofdame Chizuru, öffnete die Schiebetür, betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Einen Augenblick lang blieb er stehen, schaute sich um und nahm die Eindrücke in sich auf.
Durch das Lattenfenster fiel das trübe Licht des nebligen Morgens herein. Auf dem Fußboden lagen neue Tatami-Matten. Die Möbel standen noch an Ort und Stelle; doch unter dem sauberen Geruch nach Seife konnte Sano noch immer den Gestank von Blut und Erbrochenem wahrnehmen. Vor seinem geistigen Auge sah er die ermordete Harume mit starren Gliedern am Boden liegen – ein scheußlicher Anblick. Selbst ihr Geist schien die Luft zu verpesten. Wenngleich Sano Harume nicht gekannt hatte, sah er plötzlich ein deutliches Bild des lebenden Mädchens vor sich: lustig und lebhaft, mit funkelnden Augen und einem fröhlichen Lachen, das aus der Welt der Toten herüberzuklingen schien. Sano lief ein eisiger Schauder über den Rücken. Ihm war, als hätte er ein Gespenst gesehen.
Entschlossen schüttelte er sein Unbehagen ab und machte sich daran, die Schränke und Truhen systematisch zu durchsuchen. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte sein Interesse vor allem dem Gift gegolten. Doch als er diesmal Harumes Habseligkeiten durchsuchte, fragte er sich: Wer war dieses Mädchen? Wer waren ihre Freundinnen gewesen? Wofür hatte sie sich interessiert? Welche Charaktereigenschaften hatte sie besessen? Hatte sie irgendetwas getan, das jemanden dazu gebracht haben könnte, sie zu ermorden?
Sano legte die Kimonos vor sich auf den Boden. Bei seinem ersten Besuch in Harumes Zimmer hatte er nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen; nun betrachtete er sie genauer. Sie waren aus Baumwolle, zerknittert und in letzter Zeit offenbar nicht mehr getragen worden – wahrscheinlich hatte Harume sie mit in den Palast gebracht, sie dann aber liegen lassen, weil die kostbaren Seidenkimonos ihr viel besser gefallen hatten, mit denen sie als Konkubine ausgestattet wurde. Harume hatte einen sehr
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