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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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eigenwilligen Geschmack besessen: Die Kimonos besaßen ausgefallene Muster und Farben und waren wenig elegant. Sano betrachtete ein besonders scheußliches Exemplar, einen Sommerkimono, dessen Muster – Lilien in grellem Gelb und grüne Efeublätter – auf der leuchtend orangenen Grundfarbe zu vibrieren schien.
    Eine eiserne Schatulle enthielt einen Stapel Papiere, die mit einem ausgefransten Stück Kordel umwickelt waren. Sano blätterte sie durch in der Hoffnung, persönliche Briefe zu finden, doch es waren lediglich alte Programmhefte von Kabuki-Theatern und bebilderte Nachrichtenblätter, wie sie von den Zeitungsverkäufern in Edo feilgeboten wurden. Außerdem entdeckte Sano einen Glücksbringer vom Hakka-Tempel in Asakusa – ein auf billiges Papier gedrucktes Gebet. Offenbar hatte Harume all diese Papiere als Andenken an die Ausflüge der Konkubinen aus dem Palast aufbewahrt. In Schubladen entdeckte Sano kleine Gefäße mit Gesichtspuder, Wangenrot und Duftwässern; farbenfrohe Schärpen; Haarschmuck mit Blumenmuster; Spielkarten; billigen Krimskrams; eine alte Puppe aus Holz mit geflochtenem Haar aus Wolle – wahrscheinlich ein Spielzeug aus Kindertagen. Sano seufzte ratlos. Es gab keinen Hinweis auf irgendwelche Besonderheiten; Harume war eine ganz normale junge Frau gewesen, ohne außergewöhnliche Interessen irgendwelcher Art. Wieso hätte jemand eine solch harmlose und offenbar unbedeutende Frau ermorden sollen?
    Vielleicht stimmte Magistrat Uedas Theorie, und das wahre Ziel des Mörders war Harumes ungeborenes Kind gewesen – und damit der mögliche Thronfolger der Tokugawa. Sollten Harumes Eltern keine interessanten neuen Hinweise liefern können, endeten die Nachforschungen über Harumes Hintergrund in einer Sackgasse.
    Als Sano die Gegenstände wieder zurück in den Schrank legte, fiel ihm plötzlich ein seidener Geldbeutel auf, der eine rote Zugschnur besaß und mit weißen Pfingstrosen bestickt war. In dem Beutel steckte irgendetwas. Sano öffnete die Zugschnur und entdeckte ein gefaltetes Stück Tuch aus ungebleichtem Musselin. Neugierig faltete er das Tuch auseinander. Es enthielt ein Büschel schwarzes Haar sowie drei Fingernägel, die offenbar jemandem gewaltsam abgerissen worden waren; an den Nagelrändern war noch die tote Haut zu sehen. Angewidert verzog Sano das Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern, bei der Leichenschau bemerkt zu haben, dass an drei von Harumes Fingern die Nägel fehlten; außerdem wäre es Dr. Ito bei der Untersuchung mit Sicherheit aufgefallen. Wie war Harume an diese grässlichen Relikte gekommen, und weshalb bewahrte sie so etwas auf?
    Kaum hatte Sano sich diese Frage gestellt, fiel ihm eine mögliche Antwort ein. Doch bei näherer Betrachtung erschien sie ihm zu weit hergeholt; vor allem konnte er keinen Zusammenhang zwischen seinem Fund und Harumes Ermordung entdecken. Er wickelte das Haarbüschel und die Nägel wieder ins Tuch, steckte es zurück in die Geldbörse und verstaute diese in dem Beutel an seinem Gürtel, um den Fund später genauer zu untersuchen. Dann machte er sich an eine sorgfältige Überprüfung von Harumes restlichen Habseligkeiten. Hatten er und seine Leute sonst noch etwas übersehen?
    Als Sano den leuchtend orangenen, mit Lilien und Efeu bedruckten Kimono zusammenfaltete, knisterte irgendetwas im rechten Ärmel. Sano spürte, dass ein kleines Stück Saum steifer war als der Rest. Bei näherem Hinsehen bemerkte er ein paar lose Fäden; dort war der Saum aufgeschnitten worden. Gespannt und voller Erwartung schob er die Hand in den Ärmel und zog ein zusammengefaltetes Stück dünnes Papier hervor. Winzige, aufgedruckte rosafarbene Blüten und zarter Fliederduft ließen erkennen, dass es Papier war, wie Frauen es benutzten. Auch die winzigen, sorgfältigen Schriftzeichen auf einer Seite des Bogens deuteten darauf hin, dass sie von Frauenhand stammten. Sano ging mit dem Brief ans Fenster und las im einfallenden Licht:

    Du liebst mich nicht. Sosehr ich mir etwas anderes einzureden versuche, kann ich die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen. Du lächelst mich an und sagst freundliche Worte zu mir, weil du mir Gehorsam schuldest. Doch wenn ich dich berühre, versteift sich dein Körper vor Abscheu. Wenn wir zusammen sind, richtet dein Blick sich in die Ferne, als wärst du lieber woanders als bei mir. Wenn ich etwas sage, hörst du mir nicht richtig zu.
    Gibt es jemand, der dir mehr bedeutet als ich? Ach, mein Geist wird krank vor

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