Das Geisterhaus
der Dinge zu verändern, aber sie schienen sie
verlassen zu haben, denn der Lieferwagen setzte seinen Weg
fort. Sie hörte das Bremsen, hörte, wie sich die schweren Flügel
eines Tors öffneten und sich hinter ihr wieder schlossen. Da
betrat Alba den Alptraum, den ihre Großmutter bei ihrer Geburt
in der Sternkarte gesehen und Luisa Mora in einer warnenden
Vorahnung vorausgesagt hatte. Die Männer halfen ihr aus dem
Wagen. Sie kam keine zwei Schritte weit. Der erste Schlag traf
sie in die Rippen, sie fiel auf die Knie und bekam keine Luft
mehr. Zu zweit packten sie sie unter den Achseln und schleppten
sie eine lange Strecke weit. Sie spürte Erde unter den Füßen,
dann die rauhe Oberfläche eines Zementbodens. Die Männer
blieben stehen.
»Das ist die Enkelin von Senator Trueba, Oberst«, hörte sie
sagen.
»Ich seh’s«, antwortete eine andere Stimme.
Alba erkannte die Stimme Esteban Garcías sofort und begriff
in diesem Augenblick, daß er seit jenem fernen Tag auf sie
gewartet hatte, an dem er sie, die damals noch ein Kind gewesen
war, auf seine Knie gesetzt hatte.
Vierzehntes Kapitel
Die Stunde der Wahrheit
Alba war in sich verkrochen im Dunkeln. Sie hatten ihr mit
einem Ruck die Klebestreifen von den Augen gerissen und ihr
statt dessen eine straff sitzende Binde umgebunden. Sie hatte
Angst. Sie dachte an das Training bei ihrem Onkel Nicolas der
sie gegen die Gefahr hatte wappnen wollen, Angst vor der Angst
zu haben, und konzentrierte sich darauf, das Zittern ihrer Glieder
zu beherrschen und die Ohren zu verschließen gegen die
grauenhaften Geräusche, die von draußen zu ihr drangen. Sie
versuchte sich die glücklichen Stunden mit Miguel ins
Gedächtnis zu rufen, etwas, das ihr half, die Zeit zu täuschen
und Kräfte zu sammeln für das, was ihr bevorstand, sie sagte
sich, daß sie ein paar Stunden würde durchhalten müssen, ohne
die Nerven zu verlieren, bis ihr Großvater die umständliche
Maschinerie seiner Macht und seines Einflusses in Gang gesetzt
hätte, um sie herauszuholen. Sie suchte in ihrem Gedächtnis
einen Spaziergang mit Miguel an der Küste, im Herbst, lange
bevor der Wirbelsturm der Ereignisse das Unterste zuoberst
gekehrt hatte, in einer Epoche, in der die Wörter noch eine
einzige Bedeutung gehabt hatten, in der Volk, Freiheit, Genosse
nur das gewesen waren, Volk, Freiheit, Genosse, und noch nicht
geheimes Erkennungszeichen. Sie versuchte diesen Moment
noch einmal zu durchleben, die feuchte rote Erde, den intensiven
Geruch der Kiefern- und Eukalyptuswälder mit dem nach einem
langen, warmen Sommer gärenden Teppich dürrer Nadeln, das
durch die Bäume einfallende kupferne Licht der Sonne. Sie
versuchte sich der Kühle zu erinnern, der Stille und dieses
herrlichen Gefühls, Herren der Erde zu sein, zwanzig Jahre alt
zu sein und das Leben vor sich zu haben, sich in aller Ruhe zu
lieben, trunken vom Waldgeruch und von Liebe, ohne Angst vor
der Zukunft, mit dem einzigen, unglaublichen Reichtum dieses
gegenwärtigen Augenblicks, in dem sie sich anschauten, rochen,
küßten, erkundeten, eingehüllt in das Säuseln des Winds in den
Bäumen und das nahe Rauschen der Wellen, die am Fuß der
Steilküste in einem Getöse duftenden Schaums gegen die Felsen
schlugen, und sie, umschlungen unter einem Poncho, wie
siamesische Zwillinge unter einer Haut, lachend, schwörend, sei
es für immer, überzeugt, daß sie auf der ganzen Welt die
einzigen waren, die die Liebe entdeckt hatten.
Alba hörte Schreie, lang anhaltendes Stöhnen und ein auf
höchste Lautstärke gedrehtes Radio. Der Wald, Miguel, die
Liebe versanken im tiefen Tunnel ihrer Angst, und sie fügte sich
darein, daß sie ihrem Los ohne Ausflüchte ins Auge sehen
mußte.
Ihrer Berechnung nach mußte die ganze Nacht und ein guter
Teil des folgenden Tages vergangen sein, als zum erstenmal die
Tür aufging und zwei Männer sie aus der Zelle holten. Sie
führten sie unter Beschimpfungen und Drohungen vor Oberst
Garcia, den sie blind erkennen konnte, am Habitus seiner
Bosheit, noch ehe sie seine Stimme hörte. Sie spürte seine
Hände auf ihrem Gesicht, seine dicken Finger an ihrem Hals, an
ihren Ohren.
»Du wirst mir jetzt sagen, wo dein Freund ist«, sagte er. »Das
wird uns beiden eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen.«
Alba atmete erleichtert auf. Also hatten sie Miguel nicht
verhaftet.
»Ich will auf die Toilette«, antwortete sie, so fest sie ihre
Stimme artikulieren konnte.
»Aha,
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