Das Geld - 18
abschwächen!
Und Frau Caroline, von der diensthabenden Schwester einen Augenblick allein gelassen, trat an das Fenster, um zuzusehen, wie die Kinder unten spielten, als sie durch die kristallhellen Mädchenstimmen in der Krankenstube angelockt wurde. Die Tür stand halb offen, sie konnte die Szene beobachten, ohne bemerkt zu werden. Die weiße Krankenstube mit den weißen Wänden und den weiß verhangenen vier Betten war ein sehr freundlicher Raum. Ein breiter Sonnenstreifen vergoldete diese Weiße, die wie ein großes Lilienbeet in der lauen Luft zu schwimmen schien. Im ersten Bett links erkannte sie gleich Madeleine, das Mädchen, das damals, als sie Victor brachte, auf dem Wege der Genesung gewesen war und Marmeladenbrote gegessen hatte. Immer wieder wurde sie krank, zerrüttet vom Alkoholismus ihrer Sippe und so blutarm, daß sie mit ihren großen Augen einer erwachsenen Frau schmal und bleich war wie eine auf Glas gemalte Heilige. Sie war dreizehn Jahre alt und jetzt ganz allein auf der Welt, seit ihre Mutter gestorben war, eines Abends nach einer Sauferei, als ihr ein Mann einen Fußtritt in den Leib verpaßt hatte, um ihr nicht die zehn Sous geben zu müssen, die sie vereinbart hatten. Madeleine kniete in ihrem langen weißen Hemd mit den blonden, auf die Schultern herabfallenden Haaren in der Mitte ihres Bettes und lehrte die drei Mädchen in den anderen drei Betten ein Gebet.
»Faltet so eure Hände, öffnet euer Herz ganz weit …«
Die drei Mädchen knieten ebenfalls auf ihren Bettüchern nieder. Zwei waren acht oder zehn Jahre alt, das dritte noch nicht fünf. In den langen weißen Hemden, mit ihren gefalteten zarten Händen und ihren ernsten, verzückten Gesichtern hätte man sie für kleine Engel halten können.
»Und jetzt sprecht mir nach, was ich euch sage. Hört gut zu … Lieber Gott! Gib, daß Herr Saccard für seine Güte belohnt wird, daß er lange lebt und glücklich ist.«
Nun hob ein Lispeln von anbetungswürdiger kindlicher Ungeschicklichkeit an, gemeinsam wiederholten die drei Mädchen mit Engelsstimmen in gläubiger Begeisterung, in der sich ihr ganzes reines kleines Wesen hingab:
»Lieber Gott! Gib, daß Herr Saccard für seine Güte belohnt wird, daß er lange lebt und glücklich ist.«
In einer heftigen Erregung wollte Frau Caroline den Raum betreten, diese Kinder zum Schweigen bringen und ihnen verbieten, was sie als ein gotteslästerliches und grausames Spiel ansah. Nein, Saccard hatte kein Recht, geliebt zu werden, es hieß die Kindheit beschmutzen, wenn man sie für sein Heil beten ließ! Dann hielt sie erschauernd inne, Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie durfte sie ihren Hader, den Zorn, der aus ihrer Erfahrung geboren war, auf diese unschuldigen Wesen übertragen, die noch nichts vom Leben wußten? War nicht Saccard zu ihnen gut gewesen, er, der ein wenig der Schöpfer dieses Hauses war, der ihnen jeden Monat Spielzeug schickte? Eine tiefe Verwirrung hatte sich ihrer bemächtigt, erneut fand sie hier den Beweis, daß es keinen verdammenswerten Menschen gibt, der neben all dem Bösen, das er vielleicht getan hat, nicht auch viel Gutes vollbracht hätte. Und so ging sie, indes die kleinen Mädchen ihr Gebet wiederaufnahmen, und hatte noch lange diese Engelsstimmen im Ohr, die die Segnungen des Himmels für den Mann der Gewissenlosigkeit und der Katastrophe erflehten, dessen wahnsinnige Hände eine Welt ruiniert hatten.
Als sie endlich auf dem Boulevard du Palais vor der Conciergerie aus ihrer Droschke stieg, merkte sie, daß sie den Nelkenstrauß, den sie am Morgen für ihren Bruder gebunden hatte, in ihrer Aufregung zu Hause vergessen hatte. Aber eine Händlerin war da, die kleine Rosensträuße für zwei Sous anbot; Frau Caroline kaufte einen, und Hamelin, der Blumen über alles liebte, mußte lächeln, als sie ihm von ihrer Zerstreutheit erzählte. Ansonsten, fand sie, war er an diesem Tage niedergedrückt. In den ersten Wochen seiner Haft hatte er zunächst nicht glauben wollen, daß man ernsthafte Beschuldigungen gegen ihn vorbringen könnte. Seine Verteidigung schien ihm so einfach: sie hatten ihn gegen seinen Willen zum Präsidenten ernannt, er hatte sich von allen Finanzoperationen ferngehalten, war fast nie in Paris gewesen und hatte somit keine Kontrolle ausüben können. Aber die Unterredungen mit seinem Anwalt, die Schritte, die Frau Caroline unternahm und die verlorene Mühe waren, wie sie ihm sagte, hatten ihn sodann die fürchterliche Verantwortung ahnen
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