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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ihrem Handy ein Foto von ihrer Hand. Mit beiden Daumen tippte sie eine Nachricht ein und drückte dann auf Senden . »Das werden wir gleich erfahren«, sagte sie.
    Dr. Song beendete seine Elegie auf die liebreizende Senatorengattin, und der Minister überreichte ihr die Kühlbox. »Ein Geschenk der Bürger der Demokratischen Volksrepublik Korea«, sagte er. »Frisches Tigerfleisch, von einer majestätischen Wildkatze, die gerade erst am Gipfel des Berges Paektu erlegt wurde. Sie können sich nicht ausmalen, wie herrlich weiß das Fell dieses Tigers war. Der Minister möchte Sie alle heute Abend zum Festmahl einladen, richtig?«
    Der Minister nickte voller Stolz.
    Dr. Song setzte ein verschlagenes Lächeln auf. »Und denken Sie daran«, sagte er zur Frau des Senators, »wenn Sie Tiger essen, werden Sie ein Tiger.«
    Ringsum hörten die Leute auf zu kauen, um die Reaktion der Senatorengattin mitzubekommen, aber sie sagte nichts.Inzwischen standen mehr Wolken am Himmel, und die Luft roch nach Regen, der vermutlich aber nicht kommen würde. Der Senator nahm die Kühlbox vom Tisch. »Darum kümmere ich mich am besten«, meinte er mit geschäftsmäßigem Lächeln. »Tiger klingt nach Männersache.«
    Die Frau des Senators wandte ihre Aufmerksamkeit dem Hund neben sich zu. Sie legte ihm die Hände über die Ohren und sprach liebevoll auf ihn ein.
    Dr. Song schien die Geschenkzeremonie entglitten zu sein, ohne dass er hätte sagen können, was genau schiefgegangen war. Er kam auf Jun Do zu. »Und wie fühlst du dich, mein Sohn?«, fragte er. »Der Arm, der muss ja schrecklich weh tun, richtig?«
    Jun Do ließ die Schulter kreisen. »Ja, aber es geht schon, Dr. Song. Es ist nicht so schlimm.«
    Dr. Song war komplett aus dem Konzept gebracht. »Nein, du brauchst nicht zu leiden, mein Sohn. Ich wusste, dass dieser Augenblick kommen würde. Die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen, bricht keinem einen Zacken aus der Krone.« Er fragte Wanda: »Sie haben nicht zufällig ein Messer oder eine Schere, die wir benutzen könnten?«
    Wanda sah Jun Do an: »Haben Sie sich am Arm verletzt?«, fragte sie. Als er nickte, rief Wanda die Frau des Senators zu sich, die Jun Do jetzt zum ersten Mal bewusst wahrnahm: Eine schlanke Gestalt mit schulterlangem, weißem Haar und hellen, wie Perlen glänzenden Augen. »Ich glaube, unser junger Freund hier ist verletzt«, sagte Wanda zu ihr.
    Dr. Song fragte die Frau des Senators: »Könnte man eventuell etwas Alkohol und ein Messer beschaffen? Es ist kein Notfall. Wir müssen ihm nur die Fäden ziehen.«
    »Sind Sie Arzt?«, wollte die Frau des Senators wissen.
    »Nein«, antwortete Dr. Song.
    Sie sah Jun Do an. »Wo sind Sie denn verletzt?«, fragte sie ihn. »Ich bin nämlich Ärztin.«
    »Es ist ja nichts Großes«, erwiderte Dr. Song. »Wir hätten die Fäden vor unserer Abreise ziehen sollen.«
    Sie funkelte Dr. Song empört an, bis er den Blick abwandte. Sie holte eine Brille hervor und setzte sie auf die Nasenspitze. »So, jetzt lassen Sie mich mal sehen«, wies sie Jun Do an. Er zog das Jackett und das Oberhemd aus, dann hielt er der Frau des Senators seinen Arm hin, damit sie ihn untersuchen konnte. Sie hob den Kopf, um durch die Brille hindurchspähen zu können. Die Einstichlöcher der Nähte sahen rot und entzündet aus und nässten, als sie mit dem Daumen leicht dagegen drückte.
    »Ja«, sagte sie. »Die Fäden müssen raus. Kommen Sie, in der Küche haben wir gutes Licht.«
    *
    Kurz darauf hatten ihm Wanda und die Senatorengattin das Unterhemd ausgezogen und er saß auf der Anrichte in der Küche. Der Raum war leuchtend gelb eingerichtet, die Tapete war mit blauen Karos und Sonnenblumen bedruckt. Den Kühlschrank zierten zahlreiche, mit Magneten befestigte Kinderfotos; auch Gruppen junger Leute waren zu sehen, die die Arme umeinandergelegt hatten. Ein Foto zeigte den Senator in einem orangefarbenen Astronautenanzug mit einem Helm unter dem Arm.
    Die Senatorengattin schrubbte sich an der Spüle unter dampfendem Wasser die Hände. Wanda auch, für den Fall, dass sie gebraucht würde. Die Frau, die von Wanda mit Pilar angesprochen worden war, kam mit der Kühlbox mit dem Tigerfleisch in die Küche. Sie sagte etwas auf Spanisch, als sieJun Do oben ohne sah, und etwas anderes auf Spanisch, als sie seine Wunde sah.
    Die Senatorengattin wusch und desinfizierte sich die Arme bis über die Ellbogen. Ohne aufzublicken sagte sie: »Jun Do, das ist Pilar, unser Familienmultitalent.«
    »Ich

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