Das geraubte Paradies
kommt mir recht lang vor«, warf Carya ein. »In Arcadion sind die Soldaten doch ständig einsatzbereit, und der Mondkaiser hatte eine riesige Kaserne vor dem Schloss.«
Jonan schüttelte den Kopf. »Die Kampfkraft des Mondkaisers kann ich nur schwer einschätzen. Allerdings magst du recht haben, dass er eine große Menge Soldaten ständig unter Waffen hat – auch weil sein Reich größer ist als der Einflussbereich des Lux Dei und er praktisch alleine regieren muss. Aber die Truppenstärke in Arcadion darfst du nicht überschätzen. Sie genügt, um die Stadt zu kontrollieren und Angriffe von Banden oder Mutantengruppen zurückzuschlagen. Doch vor einem richtigen Kriegszug müssten mehr Männer eingezogen werden.«
Er tippte auf dem Bildschirm des Navigators herum und veränderte die Perspektive. Der gebirgige Norden der Machtsphäre des Lux Dei rückte ins Zentrum. »Es gibt jedoch schon recht viele Soldaten, die in Bereitschaft sind«, fuhr er fort. »Und zwar hier und hier, an den Grenzen zu Francia und an den südöstlichen Ausläufern von Austrogermania, wo wir seit Jahren kleinere und größere Kämpfe ausfechten.«
»Und was heißt das?«, wollte Carya wissen.
»Nun ja, wenn sich der Mondkaiser und der Lux Dei einigen, könnte eine Delegation beider auf dem Rückweg nach Paris die Einheiten, die ohnehin schon an der Grenze von Francia stehen, zusammenführen und in Richtung Norden schicken, um als erste Welle den Süden von Austrogermania anzugreifen. Alle übrigen Truppen könnten dann eine Woche später nachrücken. Die Einheiten, die Arcadions Südostgrenze nach Austrogermania bewachen, müssen natürlich vor Ort bleiben, um uns vor einem Gegenangriff zu schützen, auch wenn wir hier bereits einen gewissen Schutz durch die Berge haben. Soweit ich weiß, gibt es kaum noch Pässe, die für schweres Gerät befahrbar sind.«
»Alles in allem willst du mir also sagen, dass schon in zwei Wochen ein Krieg ausbrechen könnte«, fasste Carya Jonans bisherige Ausführungen zusammen.
Er nickte düster. »Wenn sie es wirklich drauf anlegen, ja. Vielleicht auch schon etwas früher. Doch das ist nicht einmal unser persönliches Hauptproblem.«
»Es wird noch schlimmer?«
»Möglicherweise. Schau, wir befinden uns auf dieser Handelsstraße.« Jonan fuhr mit dem Finger eine geschwungene orangefarbene Linie nach, die von Paris zum Mittleren Meer hin verlief. »Hier ist Dijon, von dort müssen wir weiter nach Süden in Richtung Mâcon und dann nach Osten zu den Bergen, in die Schwarze Zone. Du siehst, wie nah wir dabei der Grenze kommen.«
Allmählich begriff Carya, worauf er hinauswollte. »Dem Gebiet, wo sich all die arcadischen und francianischen Soldaten aufhalten.«
»Genau. Also, wenn wir Pech haben …«
»… wandern wir genau in die nach Norden ziehenden Truppen hinein«, vollendete sie seinen Satz.
»In die nach Norden ziehenden
arcadischen
Truppen«, verbesserte Jonan in vielsagendem Tonfall.
Ihre Blicke kreuzten sich. Erinnerungen an eine Stadt voller Steckbriefe stiegen in Carya auf. Sie wussten nicht, wie gut die Frontsoldaten über die Geschehnisse, die sich vor ein paar Wochen in Arcadion zugetragen hatten, unterrichtet waren. Dennoch mussten sie höllisch aufpassen, sobald sie diese Gegend im Südosten von Francia erreichten. Wenn sie einer arcadischen Einheit in die Hände fielen, mochte es gut sein, dass sie als Verräter erkannt wurden. Und wenn man sie nicht gleich vor Ort erschoss, brachte man sie womöglich nach Arcadion zurück, um sie der Inquisition zu übergeben. Dass ihre Suche nach der Erdenwacht damit vorbei war, würde in diesem Fall ihr geringstes Problem sein. Dieser Gedanke war alles andere als erfreulich.
Sie seufzte. »Ich frage mich ernsthaft, wer recht und wer unrecht hatte in dieser Angelegenheit.«
Jonan hob die Brauen. »Wie meinst du das?«
Carya zog die Beine wieder an den Körper und lehnte sich zurück an die Wolldecke, die über der Kiste in ihrem Rücken hing. Sie zuckte mit den Schultern. »Na, Cartagena oder der Mondkaiser. Wer von ihnen hatte die redlicheren, wer die schändlicheren Motive? Cartagena nicht zu mögen fiel mir leicht, weil er die ganze Zeit versucht hat, mich zu manipulieren. Andererseits war sein Ziel doch letztlich bloß, diese Allianz, die alle Länder in einen furchtbaren Krieg stürzen wird, zu verhindern. Und warum ziehen Arcadion und Francia gegen Austrogermania? Weil sie den Ketzerkönig hassen. Ist es also nicht eigentlich so, dass
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