Das geraubte Paradies
hob den Elektroschockstab und hielt ihn Jonan an die rechte Schulter. Ein Schlag, und eine gute Viertelstunde war Jonan weg.
Als er das zweite Mal binnen kurzer Zeit erwachte, sagte er nichts mehr, sondern funkelte Burlone bloß wütend an. Er richtete seinen Blick nach draußen, nur um festzustellen, dass sie bereits das Ödland um Arcadion erreicht hatten. Irgendwie kamen ihm die Ruinen vertraut vor. Vielleicht waren sie dieser Strecke auch auf ihrer Flucht aus Arcadion gefolgt.
Wenig später erreichten sie im Licht der aufgehenden Sonne das nördliche Stadttor, das sich in Sichtweite der Templerkaserne befand. Als die Stadtwachen Großinquisitor Aidalon sahen, winkten sie ihn, ohne zu zögern, durch. Die Wagen überquerten den Platz des Volkes und fuhren dann den Corso hinunter in die Stadt hinein.
Jonan, der durch die schmalen Fenster des gepanzerten Transporters blickte, spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend breitmachte. Er war wieder in Arcadion, nach all den Wochen und all den unglaublichen Geschehnissen, die er miterlebt hatte. Als er aus der Stadt geflohen war, hatte seine größte Sorge darin bestanden, dass dem wunderschönen, verängstigten und auch ein wenig seltsamen jungen Mädchen, das er kurz zuvor in einer Gasse kennengelernt hatte, nichts passieren würde. Mit den Straßen von Arcadion hatte Jonan auch seine Heimat verlassen, die einzige, die er je gekannt hatte.
Trotzdem fühlte es sich nicht wie eine Heimkehr an. Es kam ihm so vor, als sei er auf dem Weg in ein Gefängnis, und dieses Gefühl bezog sich nicht bloß auf das Jungenzimmer im Anwesen seines Vaters, in dem er vermutlich zehn Jahre Hausarrest würde absitzen dürfen, sondern auch auf die Stadt selbst, deren Aureuswall ihn symbolisch in seiner eigenen Vergangenheit einsperrte.
Selbst wenn das alles noch ein gutes Ende nahm und man es Carya, Pitlit, Elje und ihm erlauben würde, unbehelligt in Arcadion zu leben, würde er sich dort nicht mehr zu Hause fühlen. Die Stadt mochte die gleiche sein, mit ihren engen Gassen, den belebten Plätzen und den dicht an dicht stehenden, mit rotbraunen Ziegeln gedeckten Häusern. Aber Jonan hatte sich verändert. Sein Horizont hatte sich über den Aureuswall hinaus erweitert. Arcadion war ihm zu klein geworden, trotz der imposanten Bauwerke aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden, die der Arche Gottes stets ein machtvolles, den Hauch von Ewigkeit atmendes Fundament verliehen hatten.
Auf eines dieser Gebäude, den riesigen, aus weißem Stein errichteten Tribunalpalast, fuhr ihr Wagen nun zu. Hier hatte Jonan einst seinen Dienst verrichtet. Er hatte vor der Durchfahrt in den Innenhof Wache gestanden, hatte Inquisitor Loraldi zu offiziellen und nicht ganz so offiziellen Treffen begleitet, und ein einziges furchtbares Mal hatte er in der Richtkammer miterleben müssen, wie gefangene Invitros bestialisch gefoltert wurden, damit sie ihre Gefährten verrieten, die gemeinsam mit dem Großteil der Einrichtung eines Brutlabors einer Razzia entgangen waren.
Diesmal bin ich der Gefangene
, dachte Jonan zynisch.
So schließt sich der Kreis.
Sie fuhren in den Innenhof, wo sie von einem halben Dutzend uniformierter Wachen erwartet wurden. Aidalon wandte sich an Burlone. »Wir sperren ihn hier in eine Zelle, bis ich Stadtrat Estarto erreicht und mit ihm die Übergabe seines Sohnes besprochen habe. Führt ihn ab.«
»Jawohl, Großinquisitor«, bestätigte Burlone mit metallischer Stimme. »Komm, Verräter.« Während die Wachen den Wagen umringten und die Türen öffneten, packte Jonans früherer Kamerad ihn mit eisenhartem Griff an der Schulter und drängte ihn ins Freie. Er führte Jonan vor sich her über den Hof und in den Westflügel, den berüchtigten Teil des Tribunalpalasts, in dem die Inquisition saß. Durch Gänge, die Jonan viele Male gelaufen war, brachte er ihn in den Zellentrakt. Einer der dortigen Wächter schloss einen der kleinen, fensterlosen Räume auf, und Burlone trieb Jonan mit einem kräftigen Stoß in den Rücken hinein. Gleich darauf krachte die Tür wieder ins Schloss und wurde geräuschvoll verriegelt. Er saß in der Falle.
Willkommen in Arcadion.
Kapitel 34
Weil sie sich als zur Fahndung Ausgeschriebene mitten am Tag nicht durch das ganze Tal bewegen wollten, hatten sie ein leer stehendes Gebäude am Berghang etwa zwei Kilometer westlich des Industriebezirks ausfindig gemacht und sich dort erst einmal versteckt. Carya wäre am liebsten direkt
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