Das geraubte Paradies
Paris?«, fragte Lucai ungläubig.
Jonan schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Wenn du wüsstest, wo ich in den letzten Monaten überall gewesen bin.«
»Mann, ich wünschte, wir hätten Zeit, damit du mir alles genau erzählen könntest.«
»Es steht noch ein Bier am Ufer des Tevere aus«, rief Jonan ihm ihre Abschiedsworte vor der Kaserne des Templerordens in Arcadion ins Gedächtnis. Jonan kam es so vor, als sei das ein halbes Leben her.
»Ja, richtig. Ich erinnere mich.« Lucai grinste schief. »Nun ja, nicht heute. Ich muss weiter. Eigentlich habe ich schon zu viel Zeit verloren. Die Pflicht ruft.« Er deutete über die Schulter in Richtung des Lazaretteingangs.
»In Ordnung«, antwortete Jonan. »Lass dich nicht unterkriegen, Lucai. Und bete, dass Aidalon die anderen im Griff hat. Ich bin gerade wirklich nicht in der Verfassung, um mich mit Bruto oder Burlone anzulegen.«
»Keine Sorge, ich werde dichthalten. Und von wem sollte Aidalon sonst erfahren, dass du im Lager bist?«
Das war eine gute Frage, die Jonan sich insbesondere stellte, als der Großinquisitor ihm noch am selben Tag in den frühen Abendstunden einen Besuch abstattete. Wie es der Zufall wollte, kam er ausgerechnet in Begleitung von Bruto und Burlone – beide in Uniform, nicht in Templerrüstung – und tauchte just in dem Augenblick auf, als Jonan sich unter Mithilfe einer Schwester etwas umständlich an einem Tisch unweit seines Krankenlagers niedergelassen hatte, um ein einfaches Abendbrot zu sich zu nehmen.
»Jonan Estarto …« Der Großinquisitor spie den Namen aus wie ein Insekt, das er versehentlich eingeatmet hatte, während er, jeden zweiten Schritt mit einem nachdrücklichen Pochen seines schwarz polierten Gehstocks unterstreichend, näher schritt. Er presste die Lippen zu einem schmalen, unerbittlichen Strich zusammen und starrte Jonan unter grimmig gerunzelten Augenbrauen unheilvoll an. »Der Hochverräter, Dieb und Mörder lebt also noch. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder ob ich diesen Umstand verfluchen soll.«
»Ein Wort von Euch, Euer Ehren, und ich beseitige dieses Ärgernis«, knurrte Burlone. Auf der linken Wange seines stoppelbärtigen Gesichts glaubte Jonan ein Stück helle Haut zu sehen, ein Erbe der Nacht, als Jonan seinem damaligen Kameraden den Elektroschockstab ins Gesicht gedrückt hatte, um Carya vor ihm zu retten.
»Halt dich zurück, Burlone«, befahl Bruto, Jonans früherer Truppführer. Der glatzköpfige Hüne trug eine Miene entschiedener Gleichgültigkeit zur Schau, aber auch in seinen Augen sah Jonan noch nicht überwundenen Zorn und Enttäuschung.
Heiliges Licht Gottes, das ist übel
, durchfuhr es ihn. Einen Moment lang wurde er von dem fast übermächtigen Bedürfnis befallen, aufzuspringen und wegzurennen, aber das wäre nicht nur würdelos gewesen, sondern auch vollkommen unsinnig. Verletzt wie er war würde er niemals aus einem Heerlager voller arcadischer Soldaten entkommen.
»Großinquisitor Aidalon«, begrüßte er diesen also mit aller Gelassenheit, die er aufzubringen vermochte. »Truppführer Bruto.« Burlone ignorierte er. »Sind Sie gekommen, um mich zu richten?« Jonan konnte nur hoffen, dass Aidalon sich an den Handel mit seinem Vater hielt, sonst würde sein Leben schon bald vorbei sein.
»Ich bin gekommen, weil ich mit eigenen Augen sehen wollte, was meine Ohren nicht zu hören geglaubt haben«, erwiderte Aidalon scharf. »Aber es ist wahr! Da sitzen Sie, Estarto, seelenruhig und offensichtlich ohne das geringste Schuldgefühl.«
Jonan brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Dann nickte er. »Doch, ich fühle mich schuldig«, gestand er. »Ich fühle mich schuldig, weil ich mitgeholfen habe, Ihnen diese armen Männer, Mondo Laura und Tobyn Cortanis, auszuliefern. Ich fühle mich schuldig, weil ich mich von meinem Vater habe überreden lassen, der Tribunalpalastgarde beizutreten, obwohl mir klar war, dass deren Aufgabe nicht nur darin besteht, bedrohlich auszusehen. Vor allem aber fühle ich mich schuldig, dass es erst der Begegnung mit einer Frau bedurft hat, um mir meine Fehler einzugestehen und endlich Konsequenzen zu ziehen.«
»Ah, richtig, Carya Diodato, die Unruhestifterin mit der eigenartigen Herkunft.« Aidalons Mundwinkel verzogen sich angewidert. »Wo ist sie? Hält sie sich auch im Lager auf? Meine Agentin Neve Arida war ja bedauerlicherweise nicht imstande, mich von Caryas Existenz zu erlösen. Aber vielleicht bietet sich mir heute eine
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