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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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lernen und daran glauben! Unter seinen Freunden (denen, die noch lebten) war gut ein halbes Dutzend strikt zu meiden, weil sie süchtig waren. Zwei schätzte er als besonders gefährliche Verführer ein, weil er mit ihnen viele Nächte hindurch gute anregende Gespräche geführt, sich wach und wohl und nah allen Wahrheiten gefühlt hatte; Stunden, die er vermissen würde. Er strich ihre Namen in seinem Telefonbuch ebenso aus wie den seines Lieblingsitalieners. Keine Spaghetti vongole mehr, die besten, die es gab, weil der Kellner, der sie ihm servierte, seit Dantes Tod sein Hauptlieferant geworden war. Überhaupt keine Lokalität mehr betreten, deren Toiletten er aufgesucht hatte, um nachzulegen. Am besten überhaupt nicht mehr aus dem Haus gehen, nicht nachts, nicht allein jedenfalls, nie allein. Mit dem Mädchen im Bett bleiben, darauf lief es hinaus. Kaum vorstellbar, daß sie sich dagegen sträuben wird. Er würde die körperliche Liebe neu lernen, die schöne Einfachheit dieser Liebe, auch wenn Chuck weniger an Liebe als an der Renovierung seiner Zellen lag, am Ausschwitzen seiner Sucht. Er würde jeden Tag, den er ohne rückfällig zu werden überstand, zum glücklichsten seines Lebens erklären. Um die Erinnerungen, die ihn heimsuchen könnten, abzutöten, würde Chuck das Mädchen in sein Auto packen. Mit seinem alten amerikanischen Schlitten würden sie es zumindest noch bis nach Österreich schaffen, nach Tirol und in die Steiermark,Spaziergänge machen, Enten füttern, sich in einem Gasthof den Bauch vollschlagen und ein Bier trinken, um dann in Betten zu sinken, die – wie alles hier – aus Särgen geschnitzt schienen, und nachts knarrten und knackten. Es war unheimlich, wie unbeholfen er sich fühlte, wie leer alles in ihm war, wie still die Dunkelheit da draußen. Durch das Fenster, das (absichtsvoll) offenstand, drang kühle Nachtluft herein, aber das Unwetter hatte sich verzogen und auch der Regen hatte aufgehört. Absichtsvoll, ja, denn Chuck war extra noch einmal aufgestanden, um die Fensterläden zu verhaken, und hatte dann noch einige Minuten lang einfach dagestanden, in die Nacht hinaus geschaut, auf die über den Nebel ragenden Tannenspitzen und die vom Mondlicht beschienenen Bergriesen in der Ferne, und gut hörbar ein- und ausgeatmet. Er spürte, wie sich sein Körper spannte und sein Sicherheitsgefühl zurückkehrte. Egal, sagte er sich, ich muß es tun, auch wenn sich das arme Ding erkältet, ich muß mich auskühlen. Vor allem muß ich Mißverständnissen vorbeugen, allen Wünschen, die zu solchen führen konnten, die Wärme abdrehen. Nicht daß sie annahm, er habe sie in ein Liebesnest entführt. Auch wenn es nicht gerade das Bühnenbild war, in dem einer wie Chuck gern Regie geführt hätte, das Stück lief; die Tür eines Schrankes knarrte, ein Käuzchen schrie, nur mit dem Dialog haperte es.
    Chuck konnte noch aus einem anderen Grund nicht einschlafen. Er befürchtete, daß dieses Mädchen, das da im gleichen Zimmer in seinem Bett lag, ihm gleich die Frage stellen würde, was das alles eigentlich mit ihr zu tun hatte, während ihre Gedanken um die Frage kreisten, obes Anzeichen gab, daß er sich in sie verlieben würde. Was zum Teufel konnte ein Typ wie er an Wanderungen finden, wenn er sie doch nur wie Dienststunden absolvierte, mürrisch, schweigsam, eine Zigarette nach der anderen rauchend? Warum war er mit ihr nicht richtig nach Süden gefahren, nach Florenz oder Marseille?
    Sie waren dann tatsächlich irgendwann zusammen losgefahren und Chuck steuerte den Wagen gerade durch eine erbarmungslos idyllische Landschaft im Salzkammergut, als sie wissen wollte, ob er schon mal in New York gewesen sei.
    Zuerst reagierte Chuck nicht. Dort hatte er ein halbes Jahr mit High Noon Anna, einer schwer heroinsüchtigen Musikerin, zusammengelebt und erst richtig mit den Drogen angefangen – was genau das war, an was er nicht erinnert werden wollte.
    Chucks Antwort »Ich hab damit aufgehört« war mehr zu sich gesprochen, und viel mehr sagte er auch nicht. Er verweigerte jede Auskunft, überhaupt jedes Gespräch über Städte, die er in der Vergangenheit geliebt hatte und die ihm jetzt, wo er sein altes Leben hinter sich lassen wollte, einfach nur Angst einjagten. Außerdem war er, seit er auf Entzug war, nur noch müde. Eine Müdigkeit, wie er sie nie zuvor empfunden hatte! Und er wußte, daß er sich dieser Müdigkeit beugen, sich ihr hingeben, sich in ihr auflösen und neu zusammensetzen

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