Das Geschenk der Wölfe
Bitte hilf mir!» Sie konnte die Weinflasche nicht mehr halten, Hände und Arme nicht mehr bewegen. Das stumpfe Haar bedeckte ihr nasses Gesicht.
Er nahm sie über die Schulter und trug sie den Lichtern der Telegraph Avenue entgegen, über den dunklen Campus, vorbei an Gebäuden, in denen er studiert, debattiert und von seiner Zukunft geträumt hatte.
Die bewohnten Gebäude waren voller Stimmen, Herzklopfen, Musik, Gesprächen, dem Klagen einer Trompete, dem Lärm sich gegenseitig überlagernder Lieder. Vorsichtig setzte er die junge Frau vor der offenen Tür einer Kneipe ab, aus der Gelächter drang. Er war schon ein Stück weg, als er das Geschrei derer hörte, die die junge Frau fanden. «Ruf einen Krankenwagen!»
Die Stimmen aus Downtown riefen ihn. Großstadt. So viele Möglichkeiten. Das Leben ist ein Garten voller Schmerz. Wer soll sterben? Wer überleben? Verstört lief er weiter in südlicher Richtung.
Ich habe nur getan, was mir das Natürlichste erschien … Ich habe die Stimmen gehört. Sie riefen mich. Der Geruch des Bösen hat mich geleitet; ich brauchte ihm nur zu folgen. Es war so selbstverständlich wie atmen.
Lügner, Monster, Killer, Bestie.
Es ist abscheulich! Es muss aufhören!
Der Himmel hatte die Farbe von Ruß, als Reuben vom Dach eines hässlichen Hotels über die Feuerleiter abstieg, in einen schwach beleuchteten Korridor eindrang und leise eine unverschlossene Tür aufstieß.
Der Geruch von Laura.
Sie war am Fenster eingeschlafen, die Arme auf der Fensterbank verschränkt. In der Ferne hellten sich die bleiernen Wolken hinter dem Regenschleier auf. Überall Hochhäuser und Highways. Großstadtdschungel zwischen dem Fenster und dem weiten Meer. Nach und nach verlöschten die Lichter, und in den Straßen erwachte das Leben. Ein Garten voller Schmerz. Für wen all dieser Schmerz? Für wen?
Lass die Stimmen schweigen, bitte! Nie wieder!
Reuben hob Laura hoch und trug sie zum Bett. Ihr weißes Haar hing herunter. Als er sie küsste, flatterten ihre Lider, und sie wachte auf. Was sah er in ihrem Blick, als sie ihn ansah?
Geliebter. Einziger. Du und ich.
Ihr Parfüm betörte seine Sinne. Die Stimmen verstummten, als hätte jemand einen Hebel umgelegt. Stattdessen hörte er den Regen ans Fenster trommeln. Im fahlen Licht zog er ihr behutsam die eng anliegenden Jeans aus. Das sonst unsichtbare Haar.
Haar wie das, was mich bedeckt.
Vorsichtig zog er ihr die Bluse aus. Er drückte ihr die Zunge an den Hals, an die Brüste. Tief in seiner Brust das Grollen einer Bestie. Haben und nicht haben. Muttermilch.
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26
E r fing Grace ab, als sie das Haus betrat. Niemand war da gewesen, als er zu Hause ankam, und er hatte alles an Kleidung und Büchern zusammengepackt, was er brauchte, und es in seinem Porsche verstaut. Er war nur in den Hausflur zurückgekehrt, um die Alarmanlage wieder einzuschalten.
Fast hätte sie laut aufgeschrien. Sie trug noch ihre grüne OP -Kleidung, hatte das rote Haar aber schon gelöst, und ihre Haut zeichnete sich leichenblass gegen Haar und Augenbrauen ab, was sie erschöpft und verzweifelt wirken ließ.
Im nächsten Moment umarmte sie ihn. «Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?», fragte sie vorwurfsvoll. Dann küsste sie ihn auf beide Wangen und nahm sein Gesicht in die Hände. «Warum hast du nicht angerufen?»
«Alles in Ordnung, Mom. Mir geht’s gut», sagte er. «Ich bin in meinem Haus in Mendocino. Ich brauche das jetzt. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um dir zu sagen, dass ich dich lieb habe und dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst.»
«Nein, Reuben, du musst hierbleiben!» Sie sprach so leise, wie sie es nur tat, wenn sie der Hysterie nahe war. «Ich lasse nicht zu, dass du wieder weggehst.»
«Doch, ich gehe, Mom. Es geht mir gut. Wirklich.»
«Nein, dir geht’s nicht gut. Schau dich doch an! Weißt du eigentlich, was mit deinen Testproben passiert ist, Blut, Urin, Gewebe …? Alles hat sich in Luft aufgelöst, Reuben! Alles!» Das letzte Wort modulierte sie nur noch tonlos mit den Lippen. «Du bleibst jetzt hier, Reuben! Wir müssen rausfinden, was mit dir los ist.»
«Keine Chance, Mom.»
«Reuben!» Grace zitterte. «Ich lasse dich nicht gehen.»
«Doch, Mom, du musst», sagte er. «Sieh mich an und hör mir zu. Ich weiß, dass ich mich verändert habe, seit diese Sache passiert ist. Psychisch und physisch. Aber du musst mir vertrauen, Mom. Ich gehe so verantwortungsvoll damit um, wie ich kann. Ich weiß, dass du mit
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