Das Geschenk der Wölfe
lauter Tränen nichts mehr sehen. Er gab ihr die Autoschlüssel und ging um den Wagen herum, um auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
«Es ist vorbei», sagte er, als sie auf der Schnellstraße waren. «Ich werde nie wieder Teil dieser Familie sein. Herrgott, was soll ich bloß tun?»
«Soll das heißen, sie weiß Bescheid?»
«Nein. Sie kennt ein paar Details, aber nicht die ganze Wahrheit, nicht das Wichtigste. Und ich kann es ihr nicht sagen. Lieber würde ich sterben.»
Noch bevor sie die Golden Gate Bridge überquerten, war er eingeschlafen.
Als er wieder aufwachte, war es schon fast Abend. Laura verließ den Highway 101 und bog in die Straße ein, die zur Nideck Road führte.
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27
S imon Olivers E-Mail war kurz. «Schlechte Neuigkeiten, die vielleicht doch nicht so schlecht sind. Rufen Sie mich bitte an!»
Er hatte sie am Vorabend bekommen.
Reuben rief Oliver unter seiner Privatnummer an und hinterließ die Nachricht, er sei wieder zu Hause, sein Computer und Telefon seien eingeschaltet, Oliver solle sich melden.
Laura und er aßen an dem neuen Marmortisch im Wintergarten zu Abend. Sie saßen in einer Ecke mit Bananen- und Ficusbäumchen. Der Anblick der Orchideenbäume mit ihren hängenden rosa und lila Blüten machte Reuben geradezu glücklich.
Erst heute hatte Galton einige Farne und weiße Bougainvilleen gebracht, und trotz der blassen Nachmittagssonne war der Raum überraschend wohltemperiert. Laura wusste alles über die Pflanzen und schlug ein paar Ergänzungen vor, die Reuben gefallen würden. Wenn er wolle, könne sie welche bestellen. Auch größere Bäume, für die sie sich schon einen schönen Platz ausgedacht habe. Sehr gern, sagte er. Je grüner, desto besser. Am besten solle sie einfach Pflanzen besorgen, die sie besonders gernhatte, bestimmt würden sie ihm ebenso gefallen.
Zu essen gab es einen Eintopf aus den Resten vom gestrigen Lammbraten, den Reuben zubereitet hatte, und heute schmeckte es ihm noch besser.
«Müde?», fragte Laura.
«Nein. Ich kann’s gar nicht abwarten, oben im Haus so lange alles abzusuchen, bis wir den Eingang zur Geheimkammer gefunden haben.»
«Vielleicht gibt es gar keinen anderen als die Einstiegsluke im Glasdach.»
«Das glaube ich nicht. Es muss mehrere geben. Wenn man schon so einen kostbaren Ort hat, will man doch verschiedene Zugänge haben. Wahrscheinlich befinden sich in den Holzverkleidungen der Wandschränke Geheimtüren oder in den Badezimmern oder den Dachkammern darüber.»
«Vermutlich hast du recht.»
Sie sahen einander an.
«Bevor wir uns Gewissheit verschafft haben, können wir uns nicht mal sicher sein, ob wir die Einzigen im Haus sind», sagte Laura.
«Das stimmt, und es macht mich unglaublich wütend.» Das Schlimmste für Reuben war der Gedanke, Laura könnte in Gefahr sein. Aber er wollte ihr keine Angst machen. Statt sie zu warnen, wollte er lieber in ihrer Nähe bleiben.
Aus dem Schuppen nahmen sie eine Axt, einen Hammer und eine Taschenlampe mit.
Doch sie fanden nichts. Sie tasteten und klopften alle inneren Wände im Obergeschoss und auf den Dachböden ab.
Auch im Keller sahen sie nach. Nichts.
Irgendwann wurde Reuben müde. Es war schon nach sieben, und er betete aus ganzem Herzen, dass er sich nicht verwandeln würde, dass er diese Nacht in Ruhe und Frieden verbringen könnte. Dennoch war die Versuchung groß. Außerdem hatte er schon in der Nacht zuvor auf eine Fressorgie verzichten müssen. Sein Verlangen danach war kein Hunger im üblichen Sinn und kam nicht aus dem Magen, sondern hatte viel tiefere Ursachen.
Aber da war noch mehr.
Gleich nachdem Laura und er sich am Morgen geliebt hatten, hatte er sich rückverwandelt, weil er es so wollte. Es war viel schneller gegangen als zuvor, und seine Muskeln hatten den Prozess aktiv unterstützt, statt sich dagegen zu wehren. Immer und immer wieder hatte er schlucken müssen, als gälte es, die gesteigerten Kräfte des Wolfsmenschen in sich aufzunehmen und auch dann zu bewahren, wenn er wieder Menschengestalt annahm.
Jetzt aber konzentrierte er sich auf das Haus und die Suche nach verborgenen Räumen.
Als der Regen nachließ, zogen Laura und er dicke Pullover an und machten einen Spaziergang ums Haus. Als Erstes stellten sie fest, dass sie die Schalter der Flutlichtanlage nicht finden konnten. Reuben nahm sich vor, Galton danach zu fragen. Er erinnerte sich daran, dass die Scheinwerfer eingeschaltet waren, als er Galton zum ersten Mal
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