Das Geschenk der Wölfe
Hawthorne, Keats und die europäischen Romantiker. Er hat sich sogar mit Theologie beschäftigt, vor allem mit Teilhard de Chardin. Ich habe ein kleines Büchlein von ihm im Haus gefunden,
Woran ich glaube
. Ich hätte es mitbringen sollen. Ich weiß gar nicht, warum ich es nicht getan habe. Vielleicht weil ich es wie einen Schatz behandle. Es enthält eine Widmung für Felix von einem guten Freund.»
Reuben sah, dass sich Nidecks Miene veränderte, aber er blieb freundlich, als er sagte: «Teilhard … ein brillanter, origineller Denker.» Er senkte die Stimme, ehe er fortfuhr: «‹Unsere Zweifel und unser Missgeschick sind der Preis für den historischen Fortschritt …›»
Reuben nickte und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
«‹Das Böse ist unvermeidlich›», zitierte er weiter. «‹Es ist Teil der Entwicklung, welche die Schöpfung mit der Zeit durchläuft.›»
Einen Moment lang war Nideck sprachlos. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er sagte: «Amen.»
Arthur Hammermill starrte Reuben an, als hielte er ihn für verrückt. Doch der fuhr unbeeindruckt fort:
«Marchent hat mir ein äußerst lebendiges Bild von Felix Nideck vermittelt. Er ist Teil des Hauses. Man kann dort nicht wohnen, ohne ihn zu kennen.»
«Verstehe», sagte sein Gegenüber leise.
Die Anwälte wollten wieder eingreifen, deswegen hob Reuben die Stimme, als er weitersprach.
«Warum ist er bloß verschwunden? Was ist aus ihm geworden? Warum hat er Marchent und ihre Familie ohne jede Vorwarnung verlassen?»
Nun griff Hammermill aber doch ein. «Das alles ist seinerzeit gründlich untersucht worden», sagte er. «Und der Felix Nideck, der uns hier gegenübersitzt, kann dem Ganzen nichts Neues hinzufügen, was uns …»
«Natürlich nicht», sagte Reuben. «Ich wollte nur wissen, ob er eine eigene Theorie darüber hat, Mr. Hammermill. Ich hatte gehofft, dass er irgendeine brillante Idee hat.»
«Von mir aus können wir gern darüber sprechen», sagte Nideck und tätschelte Hammermills Arm. Dabei sah er Reuben an. «Leider kennen wir nicht die ganze Wahrheit, aber ich vermute, dass Felix Nideck verraten und in eine Falle gelockt wurde.»
«Verraten?», wiederholte Reuben und musste unwillkürlich an die Widmung in Teilhards Buch denken:
Nachdem wir das überlebt haben, kann uns nichts mehr passieren
.
«Freiwillig hätte er Marchent niemals verlassen», sagte Nideck. «Sein Neffe und dessen Frau waren seiner Meinung nach nicht in der Lage, ihre Kinder vernünftig zu erziehen. Er hatte niemals die Absicht, sie sich selbst zu überlassen.»
Bruchstücke alter Gespräche fielen Reuben ein. Abel Nideck hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Onkel; es hatte irgendeine Auseinandersetzung über Geld gegeben. Worum war es dabei noch einmal gegangen? Kurz nach Felix’ Verschwinden war Abel zu Geld gekommen.
Arthur Hammermill begann leise auf Nideck einzureden. Das alles seien sensible Fragen, die an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit besprochen werden sollten.
Nideck nickte geistesabwesend und sah Reuben an.
«Marchent hatte es vermutlich sehr schwer», sagte er. «Felix’ Verschwinden muss einen Schatten auf ihr Leben geworfen haben.»
«Zweifellos», sagte Reuben. Er war aufgeregter denn je, und auch sein Herz klopfte stärker als zuvor. «Sie glaubte, ihm sei etwas Schlimmes zugestoßen. Nicht nur ihm, sondern all seinen guten Freunden.»
Simon versuchte erneut, das Gespräch zu beenden.
«Manchmal ist es besser, nicht die ganze Wahrheit zu kennen», sagte Nideck.
«Meinen Sie?», fragte Reuben. «Vielleicht haben Sie recht, zumindest in Bezug auf Marchent. Das kann ich nicht beurteilen. Aber jetzt bin ich derjenige, der die Wahrheit herausfinden will und nach Antworten sucht.»
«Hier handelt es sich um interne Familienangelegenheiten», sagte Hammermill aufgebracht. «Das hier ist nicht der Ort, um …»
«Bitte, Arthur!», sagte Nideck. «Diese Sache ist mir wichtig. Ich möchte alles hören, was Mr. Golding mir zu sagen hat.»
Doch Reuben wusste unter den gegebenen Umständen nicht weiter. Am liebsten hätte er den Konferenzsaal verlassen, um mit Nideck unter vier Augen zu sprechen, auch wenn er sich dabei in Gefahr begeben sollte. Warum mussten sie dieses kleine Drama vor Simon und Hammermill aufführen?
«Warum haben Sie um dieses Treffen gebeten?», fragte er plötzlich. Er zitterte immer noch, und inzwischen waren auch seine Handflächen feucht.
Nideck antwortete
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