Das Geschenk: Roman
würde.
»Ich glaube, dein Vater wird es doch erfahren«, sagte Eleanor leise.
»Okay. Da ich zur Sorte der misstrauischen, paranoiden, verschwörungstheoriengläubigen Enthüllungsreporter gehöre, muss ich feststellen, dass deine Anwesenheit in diesem Zug wirklich ein Wahnsinnszufall ist.«
»Eigentlich wollten wir gestern mit dem Capitol Limited fahren.« Sie schaute auf die Uhr. »Das heißt, vorgestern, es ist ja schon Mitternacht durch. Aber dann haben sich Max’ Pläne geändert. Er kam einen Tag später nach Washington, und wir mussten deinen Zug nehmen.«
Tom zuckte die Achseln. »Dann scheint es ja wirklich ein Zufall zu sein.«
»Ja. Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich hier treffe, wäre ich nicht mitgefahren.«
»War es so schlimm mit uns beiden?«
»Es hat bloß nicht geklappt«, sagte Ellie. »So was passiert Millionen Leuten. Einige Menschen eignen sich nun mal nicht für die Ehe.«
»Ich war mal verheiratet.«
Eleanor war wie vom Donner gerührt. »Wie bitte?«
»Es war so schnell wieder vorbei – die Ehe, meine ich –, dass ich mich kaum noch daran erinnere.«
Eleanor stand auf. Sie gab sich kaum Mühe, ihren Zorn zu verbergen. »Es freut mich, dass du wenigstens eine Frau genug geliebt hast, sie um ihre Hand zu bitten, egal wie lange die Ehe gehalten hat.«
»So war es nicht, Ellie. Ich habe in meinem ganzen Leben keine so falsche Entscheidung getroffen …«
Eleanor machte kehrt und ging hinaus.
Tom blickte ihr nach, während der Cap bremste und hielt.
Er erhob sich und lehnte sich ans Fenster. Genau genommen , ging es ihm durch den Kopf, war es die zweitverkehrteste Entscheidung meines Lebens. Dann sagte er laut: »Was ist denn hier los? Bei dem Tempo wäre ich ja zu Fuß schneller nach Chicago gekommen.«
»Vor uns ist ein Güterzug«, sagte eine Stimme, »der die Gleise für den Cap versperrt.«
Tom schaute in die Richtung, aus der die Stimme zu ihm gedrungen war. In einer entfernten Ecke des Salonwagens war in der Dunkelheit die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Als die Gestalt sich erhob und auf Tom zuzuschweben schien, glaubte er, einem Geist zu begegnen, der erschienen war, ihm seinen bevorstehenden Tod anzukündigen.
Als der Unbekannte in den matten Lichtschein geriet, der durchs Fenster fiel, atmete Tom erleichtert auf. Der Mann war hoch gewachsen und schlank, hatte grau meliertes Haar, war um die sechzig und besaß scharf gemeißelte, markante Gesichtszüge. In jungen Jahren hatte er sicher so mancher Lady den Kopf verdreht. Bekleidet war er mit einem weißen Oberhemd mit Oxford-Kragen, Krawatte und einer Anzughose. Dazu kam eine Kopfbedeckung, die wie eine Schaffnermütze aussah.
»Arbeiten Sie im Zug?«, fragte Tom und deutete mit einem Kopfnicken auf die Mütze des Mannes.
»Nein«, antwortete dieser, nahm die Mütze ab und schüttelte Tom die Hand. »Früher mal. Jetzt bin ich pensioniert. Mein Name ist Higgins, Herrick Higgins.«
Auch Tom stellte sich vor, und sie setzten sich.
»Vor uns steht ein Güterzug, sagen Sie? Warum wird denn nicht dafür gesorgt, dass er Platz macht?«
»Nun«, sagte Higgins, »die Erklärung ist einfach. Die Amtrak ist nicht Eigentümerin der Gleise. Die gehören der Güterzuggesellschaft, also geht Frachtverkehr vor Passagierverkehr.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Die Amtrak besitzt praktisch keines der Schienennetze, auf denen ihre Züge unterwegs sind, außer im so genannten Nordostkorridor und auf einigen kleineren Gleisabschnitten. Als die privaten Eisenbahngesellschaften den Passagierverkehr einstellten, haben sie die Gleisstrecken behalten. Der Schienenfrachtverkehr ist sehr profitabel – im Gegensatz zum Personentransport. Amtrak hat Verträge mit allen möglichen kleineren Unternehmen. Und manchmal gibt es nun einmal logistische Probleme.«
»Nehmen Sie ’s mir nicht übel, aber das scheint mir nicht gerade die wirtschaftlichste Art und Weise zu sein, eine Eisenbahn zu betreiben«, meinte Tom.
»Der Amtrak wurden nie die Gelder zur Verfügung gestellt, um bestehende Gleisanlagen zu kaufen oder neue zu bauen. Dem Unternehmen blieb nichts anderes übrig, als sich mit den Eigentümern zu einigen. Wenn nun ein Güterzug aus irgendwelchen Gründen liegen bleibt oder gar entgleist, müssen wir warten. Das passierte alle naselang, und wir können nichts dagegen tun. Entschuldigen Sie, dass ich immer ›wir‹ sage, aber es ist eine alte Gewohnheit.«
»Wie lange waren Sie bei der Amtrak?«
»Manchmal kommt es mir so
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