Das Geschenk: Roman
vor, als gehörte ich schon ein Leben lang dazu. Ich war schon dabei, als 1971 der Betrieb aufgenommen wurde. Praktisch seit meinem ersten Atemzug bin ich Eisenbahner, genau wie mein Vater. Er war bei UP, der Union Pacific.«
Higgins blickte vielsagend auf Toms Kaffeetasse und lächelte. »Wenn überhaupt, schläft man während der ersten Nacht auf Schienen erst sehr spät ein, aber schon in der zweiten Nacht schlafen Sie wie ein Murmeltier, glauben Sie mir.« Er schaute aus dem Fenster. »Diese Strecke liegt auf einer ehemaligen Mautstraße. George Washington besaß Aktien des Mautstraßenbetreibers. Ich habe mich schon oft gefragt, was der Vater unserer Nation sagen würde, wenn er sehen könnte, dass der gute alte Cap jetzt auf der gleichen Strecke unterwegs ist. Aber vielleicht ist das nicht mehr lange so. Für die Fernzüge im Personenverkehr sieht die Zukunft nicht allzu rosig aus. Die Regierung plant schon seit längerem, die Amtrak aufzulösen und den Nordostkorridor abzutrennen.«
»Tja, Amerika ist ein so großes Land, dass es nicht sehr sinnvoll erscheint, Eisenbahnstrecken für den Passagierverkehr zu betreiben.«
Higgins sah ihn ernst an. »Sie haben Recht. Heutzutage machen Eisenbahnreisen in diesem Land nicht viel Sinn. Die Amtrak-Leute sind kreative und leidenschaftliche Idealisten. Sie müssen mit einem niedrigen Budget und altem Material zurechtkommen. Es heißt, dass der Schienenverkehr eine wahre Geldvernichtungsmaschine ist. Aber hat es denn keinen Wert für die Umwelt, zehn Millionen Luft verpestende Autos von den Fernstraßen und Autobahnen herunterzuholen und eine Flotte lärmender Düsenjets stillzulegen? Wussten Sie, dass die Regierung der Vereinigten Staaten mehr Geld für das Entfernen totgefahrener Tiere von den Highways ausgibt als für den schienengebundenen Personenverkehr?«
»Aber der Personenverkehr mit der Bahn wird subventioniert, die Fluglinien dagegen nicht.«
»Haben die Fluglinien denn Flughäfen gebaut? Bezahlen sie die Luftverkehrskontrolle? Stattdessen haben die Fluglinien Milliarden Dollars vom Staat bekommen und verdienen noch immer so gut wie nichts. Achtzig Cents von jedem Dollar, der für den Transport ausgegeben wird, fließen in die Highways – mit dem Ergebnis, dass wir weiterhin Straßen bauen und Benzin saufende Autos kaufen, um auf diesen Straßen zu fahren. Wir müssen mit einem einzigen gigantischen Verkehrsstau leben und sind obendrein von ausländischem Öl abhängig. Mit nur einem Cent Benzinsteuer für jede Gallone könnte Amtrak ein Schienennetz für eine erstklassige Personenbeförderung aufbauen, aber die Regierung will uns dieses Geld nicht geben. Ironischerweise wurden die Vereinigten Staaten mithilfe der Schienen aufgebaut. Eisenbahnschienen haben den Osten mit dem Westen verbunden und Amerika zur bedeutendsten Nation der Welt gemacht.«
Higgins setzte die Mütze wieder auf und rückte sie mit geübter Hand zurecht. »Ich habe gehört, dass ein Flugzeug entwickelt werden soll, das eine Geschwindigkeit von siebzehntausend Meilen die Stunde schafft. Damit könnte man jeden Tag zur Arbeit nach Europa und zurück fliegen.«
»Das ist doch eine reizvolle Aussicht.«
»Ja, sicher, wenn es einem mehr um das Ziel geht als um den Weg. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den meisten Leuten, die mit der Bahn fahren, nicht vordringlich wichtig ist, wohin sie fahren. Ihnen geht es um die Reise und die Menschen, die sie unterwegs kennen lernen. Wissen Sie, bei jedem Halt eines Zuges steigt ein winziges Stück Amerika ein, ein winziges Stück Ihrer Heimat, und begrüßt Sie. Deshalb sind Eisenbahnen gerade zu Weihnachten so beliebt. Die Menschen haben die Möglichkeit, während der Feiertage ihre Heimat zu sehen. Sie suchen ein bisschen Freundschaft, Nähe, jemanden, mit dem sie reden können. In einem Zug haben die Leute es nicht eilig. Für eiliges Reisen sind Züge nicht geschaffen. Wie wollen Sie diesen Wert in Dollars ausdrücken? Unter welcher Rubrik soll man das verbuchen?«
Higgins rieb sich das Kinn und schaute nachdenklich zu Boden. »Ich behaupte nicht, dass eine Fahrt mit der Eisenbahn das Leben verändert oder dass man mit dem Personenverkehr eines Tages viel Geld verdienen wird. Aber ganz gleich, wie schnell wir unterwegs sein müssen – sollte da nicht für einen Eisenbahnzug Platz sein, in dem man sich gemütlich zurücklehnen, tief Luft holen und für kurze Zeit ganz Mensch sein kann? Nur für eine winzige Zeitspanne? Ist das wirklich
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