Das Geschenk: Roman
unterhalten, was sie soeben gesehen und gehört hatten.
Unten im Rauchersalon genossen Max und Misty Zigarren, die sie in Chicago gekauft hatten, und Misty las jedem aus der Hand, der sich seine Zukunft wahrsagen lassen wollte. Der Weihnachtszeit wegen gestaltete sie ihre Voraussagen weitgehend günstig und entdeckte in den Linien jeder Hand, die ihr entgegengestreckt wurde, Hinweise auf weihnachtliche Wunder.
Eleanor machte sich in ihrem Abteil derweil Notizen zu möglichen Handlungssträngen des geplanten Films, hatte aber Mühe, sich zu konzentrieren. Diesmal war es ein ganz anderer Arbeitsprozess für sie: Eleanor war es gewöhnt, sich die Entwürfe anderer Leute vorzunehmen und daran herumzubasteln, doch gewissermaßen aus dem Nichts eigenes Material zu schaffen war etwas Neues für sie. Sie kritzelte in ihrem Notizblock, bis sie bemerkte, dass sie in dicken, dreidimensional verfremdeten Lettern »Tom Langdon« schrieb. Sie zerriss den Bogen Papier und versenkte ihn im Abfalleimer; dann lehnte sie sich zurück und schlug die Hände vor die Augen.
»Probleme?«
Eleanor schaute zur Tür, wo Roxanne erschienen war und sie musterte. Mit einem feuchten Waschlappen tupfte sie sich den Schweiß vom Gesicht, den sie ihrer erstaunlichen Showeinlage verdankte.
Eleanor richtete sich auf. »Bin nur ein wenig frustriert, nehme ich an.«
»Sie haben eine schöne Vorstellung im Salonwagen versäumt, wenn ich das unbescheiden bemerken darf.«
»Ich habe alles mitgekriegt. Es wurde über die Lautsprecheranlage übertragen. Sie waren sensationell – das Beste, was ich je gehört habe!«
Roxanne ließ den Blick über den Fußboden schweifen, der mit zusammengeknülltem Papier übersät war.
»Wie geht’s mit Ihrer Zug-Story voran? Wir könnten einen Max-Powers-Kassenschlager über die Eisenbahn gut gebrauchen, um die Bürger im Land und diese Regierung wieder auf uns aufmerksam zu machen.«
Eleanor lächelte verlegen. »Ich muss gestehen, dass ich nicht viel über Züge weiß. Seit dem College bin ich nicht mehr mit der Bahn gefahren, jedenfalls nicht in den USA. Und ich glaube nicht, dass ein paar Tage auf Schienen reichen, um so viel zu lernen, dass man der Eisenbahn gerecht werden kann.«
Roxanne hockte sich auf den Rand der Sitzbank, die als Bett diente. »Nun, ich arbeite schon länger als die meisten auf diesen Zügen, und ich weiß noch immer nicht alles. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich meinen Job so liebe. Jeden Tag gibt’s was Neues. Manchmal ist es etwas Gutes, manchmal ist es nicht so gut, aber es hält mich in Form und sorgt dafür, dass mein Hirn nicht einrostet. Und das allein ist schon eine gute Sache.«
»Wie lange arbeiten Sie schon auf diesem Zug?«
»Oh, der Chief und ich haben eine Affäre, die nun schon einundzwanzig Jahre dauert. Hin, zurück. Hin, zurück. Wir kennen jeden Salbeibusch in New Mexico, jedes Weizenfeld in Kansas. Wir kennen sogar die Farmer beim Vornamen. Wir winken ihnen zu, wenn wir vorbeifahren. Ich könnte den Zug mit geschlossenen Augen lenken – allerdings hätte Amtrak einiges dagegen.«
Eleanor holte einen neuen Bogen Papier hervor und machte sich einige Notizen. »Ich wette, die Farmer winken zurück.«
»Mädchen, ich habe allein in den letzten zwei Jahren drei Heiratsanträge bekommen. Ein Knabe hat sich eine Fahne an seinen Willi gebunden und ist ein Stück neben dem Zug hergerannt. Auf der Fahne stand: ›Willst du mich heiraten, Roxanne?‹«
»Sehr einfallsreich. Ist doch schön, so beliebt zu sein.«
»O ja, die Farmer lieben es, wenn ihre Frauen anständig Fleisch auf den Rippen haben, und ich passe genau in diese Kategorie.« Sie stand auf. »Warum begleiten Sie mich nicht mal auf meinen Runden, wenn Sie Schwierigkeiten haben, die richtigen Ideen zu finden? Ich garantiere Ihnen, ich kann Ihre schöpferischen Kräfte anheizen.«
Nachdem Roxannes Show zu Ende war und der Knabenchor sich in den Personenwagen zurückgezogen hatte, kam Father Kelly in den Salon und begann ein Gespräch mit Tom. Max und Kristobal gesellten sich dazu. Rasch stellte sich heraus, dass der Priester und der Regisseur vieles gemeinsam hatten.
»Ich wollte auch mal Priester werden«, erzählte Max. »Genauer gesagt, meine Mutter wollte es. Ich bin sogar ins Priesterseminar eingetreten, aber irgendwie hat es dann doch nicht geklappt. Ich war nicht dafür geschaffen, hatte viel zu viel für Frauen übrig … verzeihen Sie, Padre, aber so war es nun mal. Im Grunde war es
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