Das Geschenk: Roman
persönlicher Standortbestimmung verwandelte sich mehr und mehr in eine detektivische Mission mit dem Ziel, einen modernen Eisenbahndieb dingfest zu machen, der wahrscheinlich den Namen Agnes Joe trug. Doch aus zahlreichen Gründen hoffte Tom, dass sie unschuldig war.
Während er den Salonwagen durchquerte, sah er am anderen Ende Herrick Higgins, der besorgt aus dem Fenster schaute.
»Was ist los?«, erkundigte Tom sich. »Sie sehen aus, als hätten Sie Probleme.«
Higgins lächelte, doch Tom spürte, dass dieses Lächeln nicht echt war.
»Ach, nichts Schlimmes. Ich schaue nur den Schneeflocken zu.«
»Schnee kann einem Zug nichts anhaben, oder?«
Wieder lächelte Higgins, nickte jedoch bestätigend. »Wir kriegen noch eine dritte Lokomotive in La Junta, ehe wir über den Raton Pass fahren«, sagte er.
»Ist das normal, oder bekommen wir die Lok wegen dem Schnee?«
»Es ist eigentlich ganz normal. Zum Raton Pass ist es ein ziemlich steiler Anstieg, und eine dritte Lok vergrößert die Sicherheitsreserven.« Er konzentrierte sich wieder auf den Schneefall draußen, und seine Miene wurde sofort wieder ernst. Tom setzte seinen Weg fort, schaute aber mehrmals nervös zu dem alten Eisenbahner zurück und versuchte erfolglos zu ergründen, was in dessen Kopf vorging.
KAPITEL 21
Als Roxanne und Eleanor den Personenwagen betreten hatten, in dem der Knabenchor untergebracht war, holte Roxanne eine Dose Lysol hervor und begann um sich zu sprühen. »Okay«, sagte sie, »ich glaube, wir haben es hier mit einem ziemlich schweren Fall von Reisedreck zu tun. Versucht ja nicht, Mrs Roxanne an der Nase herumzuführen, denn sie hat fünf Söhne und einen Stall voller Enkel. Außerdem ist sie Spezialistin für das ›Stinkende-junge-Männer-Syndrom‹, wie sie es gern nennt – und genau das hat in Mrs Roxannes Eisenbahn nichts zu suchen. Haben wir das verstanden?« Die Jungen nickten ausnahmslos. »Gut. Ich habe für die nächste Stunde zwei Duschen reserviert, und die werden wir ausgiebig benutzen, nicht wahr?« Die Jungen nickten abermals. Roxanne teilte sie in zwei Reihen ein. »Drei Minuten pro Mann und Dusche, nicht mehr und nicht weniger! Dieser Zug ist zwar ein Wunder auf Rädern, aber Wasser kann auch er nicht herbeizaubern. Und wir waschen uns die Haare und die Ohren und die Füße, und wir haben am Ende keine schmutzigen Finger, denn es wird eine Kontrolle geben – o ja, und was für eine! Und der liebe Gott im Himmel wird auf euch blitzsaubere junge Männer herabschauen, und er wird euch dieses Jahr zu Weihnachten segnen wie nie zuvor.« Um ihre Ankündigung zu unterstreichen, summte sie berühmte Melodien von Pearl Bailey und Billie Holiday; dann führten die Aufsichtspersonen die Jungen hinaus zu den Duschen.
»Wie kommt es, dass Sie sich so eingehend um den Chor kümmern?«, fragte Eleanor. »Dass Sie mit den Jungen singen, kann ich ja verstehen, aber da steckt doch wohl noch mehr dahinter.«
»Es sind gute Jungs«, sagte Roxanne fest, »die zu großen Dingen fähig sind. Aber sie haben auch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, vor allem in ihrer Heimatstadt. Die meisten von ihnen haben nur geringe Chancen, einmal anständige Erwachsene zu werden – und das werde ich nicht hinnehmen! Jeder von diesen Jungen soll es schaffen. Diesen Sommer nehme ich einen Monat Urlaub. Ich hab mir die Tage angespart. Dann ziehen wir los, die Jungs und ich, und treten überall auf. Diese Burschen werden Dinge zu sehen bekommen, die dafür sorgen, dass sie in Zukunft immer nur das Richtige tun wollen. Sie werden Träume haben, von denen sie bis jetzt nicht mal etwas ahnen, und die alte Roxanne wird da sein und die Jungen bei der Hand nehmen und führen, bis sie mich nicht mehr als ihre Mami brauchen.«
»Das ist ein ehrgeiziges Ziel«, stellte Eleanor fest.
»Aber diese Jungs sind es wert, finden Sie nicht?«
Eleanor lächelte. »Ich glaube, dass sie es mehr als wert sind.«
Sie gingen weiter in den nächsten Personenwagen, wo ein benommen wirkender junger Mann im Mittelgang auf und ab marschierte.
»Sie werden feststellen, dass Personenwagen in Fernzügen ziemlich interessante Orte sein können«, sagte Roxanne leise zu Eleanor. »Wenn Sie auf der Suche nach guten Geschichten sind, gibt es kaum etwas Besseres, als sich in einen Waggon zu setzen und die Augen und Ohren offen zu halten.« Mit lauter Stimme sagte sie: »Na, Ernest, wie fühlst du dich denn heute?«
»Dämonen, Dämonen überall, Roxanne – draußen
Weitere Kostenlose Bücher