Das Gesetz der Freiheit
Ihnen wissen. Vielmehr interessiert mich zunächst einmal Ihr Name.“
„Lorna heiße ich, Lorna Freniss. Frei, weiß und mehr als einundzwanzig, also mündig. Und eine Anti aus freiem Entschluß. Außerdem stolz darauf.“
„Warum sollten Sie auch nicht?“ Dell versuchte keine der Fragen zu stellen, die in ihm hochdrängten. Lorna lächelte und berührte mit sanfter Bewegung seine Hand.
„Wir beide, Sie und ich, haben allerlei Gemeinsames, Dell“, sagte sie. „Auch Ihnen gefällt die Welt, so wie sie ist, gar nicht so recht, nicht wahr? Ich weiß ganz genau, daß Sie das Brandmal, das Sie auf der Stirn tragen, nie im Leben verdient haben. Dazu ist es viel zu frisch, und Sie haben noch lange nicht genug gehungert; in Ihrem Gesicht steht nicht der fahle, verzweifelte Ausdruck, den jeder Mensch bekommt, der zu lange Kummer und Sorge oder Hunger ausgehalten hat. Ihnen geht es wie so vielen anderen: Sie sind irgendwie in etwas verwickelt worden, das sich als erheblich zu stark für Sie erwiesen hat; oder es ist zu verrottet und gemein, als daß Sie es übers Herz brächten, sich damit zu befassen. Sie sind ein feiner, vornehmer Mensch, Dell. Jawohl, ich sehe es Ihnen ganz deutlich an, daß Sie ausgesprochen vornehm wirken. Sagen Sie, meinen Sie nicht auch, daß es höchste Zeit ist, die Zügel wieder fest in die Hand zu nehmen und nicht einfach alles schleifen zu lassen?“
„Die Zügel in die Hand nehmen?“ Er starrte sie trübe an, runzelte die Stirn und versuchte, die Bedeutung der Aufforderung zu verstehen. „Wie meinen Sie das?“
„Die Verhältnisse ändern müssen Sie, Dell. Und zu diesem Zweck müssen Sie sich anschließen. Sie müssen ebenfalls ein Anti werden. Und Sie müssen uns helfen, ein wenig Recht und Gerechtigkeit zurückzuerobern und der Welt zu schenken.“
Genau das hatte er erwartet. Von ersten Augenblick an hatte er gewußt, daß irgendwann diese Aufforderung an ihn ergehen würde; dennoch wußte er auch jetzt noch nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Welt, in der er lebte, war frei, wirklich frei; und jeder Versuch, irgendwelche Lenkung durch strafandrohende Gesetze einzuführen, mußte zwangsläufig auf heftigen, entschlossenen Widerstand stoßen. Die Anti fochten ohne allen Zweifel für eine verlorene Sache; sie jagten einem hoffnungslosen Traum nach und strebten danach, etwas schon vor langer Zeit Erstorbenes zu neuem Leben zu erwecken. Trotzdem aber …
Es mußte doch etwas Herrliches sein, ohne Waffe oder bewaffnete Wachtposten durch die Stadt gehen zu können, voller Sicherheit in dem Bewußtsein, daß jeder Überfall so gut wie ausgeschlossen war. Es mußte herrlich sein, die Menschheit daran hindern zu können, sich gegenseitig durch Rauschgifte aller Art in verkommene Tiere zu verwandeln, die ausgemergelten Körper und eingefallenen Gesichter kindlicher Bettler endgültig in die Vergangenheit zu verweisen, ebenso wie die armseligen Wracks, die heimatlos überall umherstreunten. Wie mußte man sich wohl vorkommen, wenn man in einer Welt lebte, die wirklich frei von aller Furcht war?
Irgend etwas in seinem Innern begriff vollkommen, daß er nur eine Rechtfertigung für sein eigenes Versagen suchte; aber er wies dieses schuldhafte Gefühl von sich und stellte sich voller Hoffnung eine Welt vor, in der die Menschen wußten, was sie selbst und was ihre Mitmenschen taten, und in der sie sicher sein konnten, daß all ihr Tun und Lassen sich nur unter der wohltuenden Macht des Gesetzes abspielte.
Und dennoch …
Der Unparteiische hatte mit kalter, glasklarer Logik gesprochen; und seine Worte waren unbedingt vernünftig gewesen. Kein Geschlecht konnte freier sein als heutzutage jedes Einzelwesen es war. Wenn man einen einzigen Einzelmenschen zum Sklaven machte, machte man zwangsläufig alle zu Sklaven.
„Haben Sie etwa Angst?“ Lorna beugte sich ein wenig vor, ihr Gesicht kam ihm über den Tisch hinweg näher, und sie senkte die Stimme. „Sie haben gesagt, Sie seien früher Geschäftsmann gewesen. Was haben Sie sich wohl so gedacht, wenn Sie sich einmal überlegten, daß jeder Mensch, der im Besitz eines Revolvers war, nur auf dem Sprung stand, Ihnen bei passender Gelegenheit alles zu rauben, was Ihnen gehörte? Wie gefiel es Ihnen, daß Sie schon morgens beim Erwachen anfangen mußten, sich voller Sorge zu fragen, ob Sie wohl noch eine Fabrik besaßen oder nicht? Machte es Ihnen etwa Spaß, daß Sie zwangsläufig bewaffnete Wachtposten anstellen mußten, die Ihr
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