Das Gesetz der Freiheit
natürlich manches, was unerfreulich ist. Vielleicht aber regelt sich mit der Zeit doch alles auch ohne Eingreifen der Antis.“
„Wie sollte das wohl geschehen?“ Sie lachte bitter auf, und ihre vollen Lippen verzogen sich vor Zorn. „Wenn wir alle verdummte Rauschgiftsüchtige sind, in ein erbärmliches Schicksal hineingestoßen von den rücksichtslos Machthungrigen und den geldgierigen Fabrikanten? Wenn auf unseren Straßen haufenweise Tote umherliegen und wir alle längst vergessen haben, wie es ist, wenn man seinem Nebenmenschen Vertrauen schenken kann? Wenn aller Verkehr einschläft, weil es keinen Brennstoff mehr gibt, und die Leute aus den Städten fliehen, weil sie nichts mehr zu essen haben? Wann soll denn wohl das neue Zeitalter anbrechen, Dell? Was meinen Sie?“
Wieder rückte er unruhig und hilflos auf seinem Stuhl umher und wünschte von Herzen, daß sie nie mit dieser Auseinandersetzung angefangen hätte. Das Denken war ausgesprochen beschwerlich. Sein Magen zog sich vor Übelkeit zusammen, und in seinem Kopf pochte es wie von tausend Hämmern nach all der Überanstrengung, der ständigen Hochspannung und dem hoffnungslosen Mangel an Ruhe und Schlaf. Und wenn sie nun wirklich im Recht war – woran er noch immer lebhafte Zweifel hatte –, was konnten sie denn schon dagegen tun? Er wußte ein wenig über die Antis Bescheid. Sie richteten Fürsorgestationen ein, hielten Predigten an den Straßenecken und standen gegen alles und jedes. Die meisten von ihnen waren Fanatiker, und dennoch …
„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte er ein wenig beschämt. „Der Unparteiische hat mit nicht weniger Überzeugungskraft geredet als Sie; er wußte ebenso treffende Argumente für die schrankenlose Freiheit anzuführen.
Wer mag denn nun endlich recht haben, er oder Sie?“
„Der Unparteiische?“ Lorna starrte ihn fassungslos an, und ihr bleiches Gesicht spannte sich, bis die Muskeln reißen wollten. „Sie haben mit einem Unparteiischen gesprochen?“
„Wir haben einen hinzugezogen, um eine Meinungsverschiedenheit aus der Welt zu schaffen. Ich bin mit meiner Ansicht unterlegen, aber was er sagte, ist mir doch im Sinn haften geblieben.“ Ein wenig hilflos blickte er sich in dem großen Schankraum um. „Überlegen Sie doch einmal, Lorna: Wir haben doch überhaupt keine Vergleichsmaßstäbe, wir können uns ja gar nicht vorstellen, wie es in früheren Zeiten gewesen ist. Woher wollen wir da die Überzeugung nehmen, daß ein Gesetz, das unter Strafandrohung durchgesetzt wird, besser und angenehmer wäre als die schrankenlose Freiheit?“
„Sie haben also mit einem Unparteiischen gesprochen.“ Es war, als hätte Lorna seine letzten Worte überhaupt nicht vernommen. „Sie haben ihn angehört, seinen Rat erbeten und ihm erlaubt, Sie zu gängeln und zu beherrschen.“ Aus flammenden Augen schaute sie Dell an, lodernde Röte überflutete ihre eben noch bleichen Wangen.
„Sie Narr!“ rief sie aus.
„Warum denn, Lorna? Warum?“
„Weil die Unparteiischen hinter alledem stehen; weil sie schuld an unserem trostlosen Zustand sind“, zischte sie voller Bitterkeit. „Nun wissen Sie den Grund.“
Verblüfft und ungläubig erwiderte er ihren sengenden Blick.
5. Kapitel
Die Nacht ging langsam zur Neige, und mit der zunehmenden Helligkeit erwachte auch das Leben in der Stadt. Turbinenfahrzeuge surrten durch die Straßen, in rasender Geschwindigkeit brachten sie Geschäftsleute mit ihren Wachtposten an ihre Wirkungsstätten. Ein paar Arbeiter, die sich verspätet hatten, wollten das Versäumnis durch größere Geschwindigkeit einholen. Kleine, lärmende Scharen reicher Müßiggänger kehrten von ihren nächtlichen Streifzügen heim.
Die Rudel der Bettler hatten sich zerstreut, sie hatten sich wieder darangemacht, ihre unaufhörlichen Runden von einer Mülltonne zur anderen zu ziehen, oder sie verkrochen sich zu kurzer Ruhe in eine ungestörte Ecke. Wachmannschaften lösten sich ab, die Nachtschicht räumte mit müden, erschöpften Augen den Männern des Tages das Feld. Die Läden öffneten sich zu neuen Geschäften. In den Fabriken, Restaurants, an den Kiosken, in denen man drei Arten Zigaretten erstehen konnte und kleine Bündel von Rauschgift, herrschte reges Leben. Passanten blieben vor den Kiosken stehen, Männer und Frauen; mit schlaffen, teigigen Gesichtern standen sie da, traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und warteten auf die Pulver, die ihnen den Mut verleihen sollten, den
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