Das Gesetz der Neun - Goodkind, T: Gesetz der Neun - The Law of Nines
er kurz. »Aber ja. Ich hab lediglich eine Landschaft gemalt …«
»Dies hier ist eine Stelle im Wald in der Nähe meines Wohnorts.« Mit ihrem eleganten Finger tippte sie auf den Schatten unterhalb der emporragenden Kiefern. »Genau hier habe ich zahllose Stunden gesessen und zu den Pässen hier und hier drüben hinübergeschaut. Von dieser Stelle hat man einen Blick, der seinesgleichen sucht – genau wie in deinem Bild.«
Alex verschlug es die Sprache. »Es ist nichts weiter als eine Darstellung des Waldes. Die unterschiedlichsten Stellen dort können einander durchaus ähnlich sehen. Bäume der gleichen Gattung sehen mehr oder weniger überall gleich aus. Ich bin sicher, es erinnert Sie nur an einen Ort, den Sie kennen.«
Sie wischte eine Träne unter ihrem Auge fort. »Nein.« Sie schluckte und wies auf eine Stelle, an deren Gestaltung er sich noch gut erinnerte. Aus irgendeinem Grund hatte er sich mit diesem Baumstamm besondere Mühe gegeben. »Siehst du diese Kerbe, hier im Baum?« Sie blickte zu ihm hoch. »Diese Kerbe habe ich dort hinterlassen.«
»Die haben Sie dort hinterlassen«, wiederholte er tonlos.
Jax nickte. »Ich hatte gerade mein Messer geschliffen und wollte ausprobieren, wie scharf es war. An dieser Stelle ist die Rinde dick. Ich habe papierdünne Streifen herausgeschnitten.
Obwohl Baumrinde zäh ist, beschädigt sie eine frisch geschliffene Klinge nicht so leicht wie zum Beispiel Holz.«
»Sie sitzen also gern an solchen Orten?«
»Nein, nicht an solchen Orten, sondern an genau diesem Ort. Ja, ich sitze gerne dort. Es ist ein Shineestay.«
»Shineestay? Was bedeutet das?«
»Der Begriff ist uralt und bedeutet ›Ort der Macht‹. Genau diesen Ort hast du gemalt.« Abermals betrachtete sie die Landschaft und tippte auf eine Stelle seitlich in dem sonnendurchfluteten kleinen Tal. »Einen kleinen Unterschied gibt es allerdings. Hier, am Rand dieser Lichtung steht ein Baum, den du weggelassen hast. Bis auf diesen einen fehlenden Baum ist die Stelle akkurat wiedergegeben.«
Alex fühlte eine Gänsehaut seinen Nacken hinaufkriechen. Er wusste genau, welchen Baum sie meinte.
Ursprünglich hatte er ihn genau an der von ihr angegebenen Stelle dargestellt. Aber weil er die Komposition des Bildes störte, hatte er ihn wieder übermalt. Er erinnerte sich noch genau daran. Als er auf die von Jax angezeigte Stelle schaute, konnte er sogar noch schwach die Konturen der Pinselstriche unter der darüber gemalten Farbschicht erkennen.
Ihm war unerklärlich, wie es der ihr so vertraute Ort sein konnte. »Wo befindet sich diese Stelle?«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang. Wieder nahm ihre Stimme diesen leicht unnahbaren, unbeteiligten Tonfall an. »Wir müssen uns unterhalten, Alex. Leider gibt es sehr viel zu besprechen, aber wie schon beim letzten Mal, so kann ich auch heute nicht lange bleiben.«
»Ich höre.«
Sie betrachtete die Passanten. »Gibt es hier in der Nähe einen Ort, an dem wir etwas ungestörter sind?«
Alex wies die Passage hinunter. »In dieser Richtung gibt es ein ganz nettes Restaurant. Der mittägliche Ansturm ist vorbei, es dürfte also ruhig und ungestörter sein. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Mittagessen einlade, und Sie erzählen mir so viel, wie Ihre Zeit zulässt?«
Die Lippen zusammengepresst dachte sie einen Moment über den von ihm vorgeschlagenen Ort nach, schließlich willigte sie ein. Ihre Vorsicht überraschte ihn. Womöglich hatte sie auch jemanden wie Ben zum Großvater.
Beim Aufstehen hielt sie das Bild eng an ihren Körper gepresst. »Vielen Dank hierfür, Alex. Du kannst unmöglich ermessen, was mir das bedeutet. Es ist einer meiner Lieblingsplätze. Ich suche ihn auf, weil es dort so wunderschön ist.«
Er bedankte sich für ihre freundlichen Worte mit einer Verbeugung. »Aus ebendiesem Grund habe ich ihn gemalt. Dass Ihnen das Bild gefällt, ist für mich ein größerer Lohn, als Sie wissen können.«
Er wollte zwar noch immer wissen, wie es möglich war, dass er einen ihr bekannten Ort gemalt hatte, spürte jedoch ihre Anspannung und beschloss, es langsam angehen zu lassen. Sie hatte sich bereitgefunden, ihm alles zu erklären, also war es vermutlich das Klügste, sie jetzt nicht zu verschrecken.
Alex nahm die eingerollten Bilder und klemmte sie unter seinen Arm, als sie die Passage entlanggingen.
»Wie sind Sie zu dem Namen Jax gekommen?«
Ihre Miene hellte sich auf, fast hätte sie über seine Frage gelacht. »Es ist ein Spiel. Man
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