Das Gesetz Der Woelfe
Tränen in die Augen stiegen. Dann schlossen sich die Aufzugtüren gnädigerweise, und sie waren allein. Micks Hand legte sich wieder um die ihre.
Clara erwachte im Morgengrauen. Graues Licht sickerte durch die Fenster und ließ die Dinge im Zimmer seltsam zweidimensional erscheinen. Es gab keine Schärfe und keine Tiefe, nur unterschiedliche Töne von Grau. Im Fenster war nichts als der Himmel zu sehen, grau auch er, jedoch von einer schimmernden, durchlässigen Helligkeit, die schönes Wetter erahnen ließ. Clara stand leise auf und ging zu einem der Fenster. Von dort konnte man fast die ganze Stadt überblicken. Die Straßen unter ihr lagen noch im Dunkeln, einzelne Autos waren jedoch bereits unterwegs, ihre Lichter krochen wie leuchtende Insekten lautlos vorbei. In der Ferne sah man den Olympiaturm, auf seiner Spitze blinkte ein rotes Licht. Sie fröstelte und ging zurück zum Bett, um sich eine Decke zu holen. Mick schlief auf dem Bauch, den Kopf halb unter seinem Kissen vergraben. Seine Haut leuchtete in dem blassen Licht, und an seiner Schulter und dem rechten Oberarm zeichneten sich schwach Tätowierungen ab. Anstatt zurück zum Fenster zu gehen, setzte Clara sich neben Mick auf das Bett und wickelte sich die Decke um die Schultern. Sie betrachtete die bläulichen Zeichnungen auf seiner Haut, lächelnd folgte sie mit den Fingern den Konturen eines Adlers mit scharfem Schnabel und kunstvoll geformten Schwingen. Vorsichtig strich sie über das komplizierte Muster aus Knoten und geschwungenen Linien und fand, dass Mick auch am Morgen noch recht gut aussah. »Viel zu jung, zu wild«, murmelte sie leise, und ihr Lächeln wurde nachdenklicher. Eine zarte Röte kroch an ihrem Hals entlang ins Gesicht, als sie an die Details der gestrigen Nacht erinnert wurde. Sie hatte vollkommen die Kontrolle verloren. Etwas, was ihr selten, eigentlich fast nie passierte. Plötzlich wurde ihr unbehaglich zumute: Es war nicht gut für sie. Es konnte nicht gut für sie sein.
Nach einer ganzen Weile stiller Betrachtung des schlafenden Mannes neben ihr raffte sie sich endlich auf und suchte in dem grauen, perlenden Licht langsam ihre Kleidungsstücke zusammen. Mit dem Bündel unter dem Arm und der Decke, die sie wie eine Schleppe hinter sich herzog, schlich sie in das angrenzende Badezimmer, das winzig war und kein Fenster besaß. Der Spiegel zeigte ihr ein vollkommen zerzaustes Etwas, durchscheinend blass und zerknittert, mit einer aufgesprungenen Lippe. Sie fuhr sich mit dem Kamm, der sich auf der Ablage befand, ein paar Mal vergeblich durch die Haare, dann gab sie es auf. Sie starrte ihr Gesicht im Spiegel an und versuchte, sich wiederzuerkennen. Ihre Augen schienen dunkler als sonst, lagen tiefer in ihren Höhlen, leuchtend und fremd in ihrem Gesicht. Sie zwinkerte und strich sich über die Falten in ihren Augenwinkeln. Dann drehte sie den Wasserhahn auf und ließ eiskaltes Wasser über ihre Hände und ihr Gesicht laufen, bis es rot vor Kälte war. Sie rieb sich mit einem der harten Handtücher, die an einem Haken an der Wand hingen, trocken, so heftig, als müsste sie sich dieses neue Gesicht wieder abrubbeln. Es war gefährlich, dieses Gesicht, diese Augen.
Als sie fertig angezogen aus dem Bad kam, war es schon fast hell. Am Horizont schimmerte bereits das zartgelbe, durchsichtige Licht der aufgehenden Sonne. Mick hatte sich nicht gerührt, und Clara war froh darüber. Sie hatte Angst und fürchtete sich davor, sich einzugestehen, weshalb. Ihr Blick schweifte neugierig durch das große Zimmer, das offenbar Micks gesamte Wohnung darstellte. Es war ziemlich unordentlich, eine Menge Dinge lagen auf dem Boden, dem Sofa und einem niedrigen Couchtisch herum. Am auffälligsten aber waren die Bücher. Überall stapelten sich Bücher. Am Boden, in Regalen bis zur Decke, sogar auf dem Esstisch vor der kleinen Küchenzeile an der Wand gegenüber dem Bett, das mitten im Zimmer vor den beiden großen Fenstern stand. Dort, wo sich ein Nachttisch hätte befinden können, stapelten sich einige große Bildbände, darauf standen eine Lampe und ein altmodischer Wecker neben einem großen, seltsam geformten Stein. Daneben, auf dem Boden lagen ein schwarzer Motorradhelm und eine Lederjacke. Nach einigem Zögern griff Clara nach ihrer Tasche, die neben der Eingangstür am Boden lag und kramte ihr Adressbuch heraus. Hastig, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte, kritzelte sie ihre Telefonnummer auf eine leere Seite, riss sie heraus und
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