Das Gesetz des Irrsinns
Sparte »Wissen« der SZ : Entdeckung im Südpazifik. »Beim Balzen zeigen einige männliche Tintenfische auf einer Körperseite ihr Prachtgewand. Ihre andere Seite tarnen sie dagegen als Weibchen, sobald sich ein Rivale nähert. Auch während einer Paarung behalten die Tiere die weibliche Färbung nach außen bei und verhindern so vermutlich, dass andere Männchen stören.«
Und zum krönenden Abschluss: Der maritime König im Reich der Mimikry, der
Thaumoctopus mimicus,
englisch abgekürzt: Mimic Octopus.
Der achtarmige Krake wurde im Uferbereich indonesischer Inseln aufgespürt. Er hält sich meist über sandigen, pflanzenarmen Böden auf, kann entsprechend leicht aufgespürt werden von Feinden, weiß sich jedoch zu schützen durch rasche Verwandlungen. Etwa als Stachelrochen: Jeder Tentakelarm bildet einen Kreis; ein Arm bleibt ›rückwärts‹ ausgestreckt: Imitation der giftigen Waffe des Rochens. Kaum ist die Gefahr vorbei, legt der Oktopus die Tentakelarme gestreckt aneinander, nimmt so, von oben besehen, die elegante Fischform der Seezunge an. Dann wieder imitiert er, halb versteckt, mit einem der Arme eine Seeschlange, die besonders gefürchtet ist.
Taucher haben Verwandlungsspiele des Mimic Octopus gefilmt. Auf YouTube lässt sich bestaunen, wie der Oktopus, von einem Fisch verdächtig avisiert, sich sekundenschnell, ja schlagartig schwarz einfärbt und die Form eines Tintenfischs annimmt; kaum ist die Gefahr vorüber, nimmt er wieder die ursprüngliche, gefleckte Färbung an, schwebt in Flunderform davon. Wie viele Varianten der polymorphe Oktopus annehmen kann, ist noch nicht vollständig aufgelistet, es dürften zwischen fünf und fünfzehn sein.
Selbstverständlich lässt sich auch hier vieles erklären. Hautzellen, Chromatophoren, enthalten verschiedene Farbpigmente, die je nach Bedrohungslage aktiviert werden. In der Oberfläche gibt es sogar Spiegelzellen für besondere Lichtreflexe. Sicherlich wird man auch hier die steuernden Gene sequenzieren können,
aber
: Wie werden sie aktiviert, deaktiviert? Wie hat sich das hochkomplexe Programm entwickelt?
Ich habe mir angelesen, dass der größte Anteil des Genoms nicht aus Genen (somit aus codierenden Elementen) besteht, sondern aus Abschnitten, die man früher als »trash« bezeichnet hat; die Evolution konserviert aber keinen ›Müll‹, kein Leergut; also muss angenommen werden, dass in scheinbar nichtssagenden Zwischenstrecken die entscheidenden Steuerungen von Genen erfolgen, ihr Timing.
Und wieder stehe ich vor der Frage: Wie ist dieses Steuerungsprogramm entstanden? In der Quantenphysik musste selbst ein Albert Einstein hinnehmen, dass die Natur den alten Satz ignoriert: Natura non fecit saltus. In der Mikrowelt aber finden unberechenbare Sprünge (Quantensprünge) statt. Leistet sich die Natur neben Sprüngen auch Spiele?
Und der Rabe nahm den Fellsack. Ich hatte mir vorgenommen, eine Sprachstruktur zu entwickeln, wie sie Ethnolinguisten noch nicht nachweisen konnten an der Ostküste von Grönland, auf der Insel Kuhn – die es gibt.
So wie niederländische Zeichner und Maler vielfach mit Naturstudien neue Bilder vorbereiteten, so habe ich mich über Sprachformen informiert, die von Samuel Kleinschmidt übermittelt wurden. Der in Grönland geborene Sohn des deutschen Missionars Konrad Kleinschmidt erlernte das Inuit-Inupiaq, um missionierend besser verstanden zu werden und einwirken zu können. Aus Elementen, die er in seiner
Grammatik der grönländischen Sprache
(Berlin 1851 ) vermittelte, habe ich ein neues Konzept von Sprache entwickelt, dies vor allem unter den Aspekten von Zeit und Raum – und von Bewegung im Raum. Die
Wort
formen der Inuit sind demnach übernommen, die
Sprach
strukturen hingegen sind meine freie, auf das Ambiente abgestimmte Erfindung.
Die mit verifizierbaren Sprachmaterialien entwickelten fiktiven Sprachstrukturen machen bewusst, können bewusst machen, welche Sprachformen für uns (fast allzu) selbstverständlich geworden sind: Es hätten auch andere Sprachformen entstehen können. Mit der Anreicherung (oder Überhöhung) tradierter Sprachmuster kann Bewusstsein angereichert werden. Ich wiederhole die programmatische Formulierung:
Spielraum der Wahrscheinlichkeit
. Der darf nicht verlassen werden, sonst wird es x-beliebig.
Zur Erhellung des Hintergrunds der fiktiven ethnolinguistischen Feldforschung auf der Insel Kuhn tragen auch Berichte des Polarforschers Alfred Wegener bei – der freilich nie auf dieser
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