Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
bekämpfen.«
»Siehst du mich auch so? Dann sollte ich vielleicht als dein Berater zurücktreten.«
Eine lastende, beinahe greifbare Stille trat ein. Dann war wieder die Stimme der Frau zu hören, diesmal kalt und selbstbeherrscht:
»Du hast recht. Ich erteile dir die Erlaubnis, vom Amt zurückzutreten. Bist du zufrieden, oder wünschst du eine Fortsetzung im Fechtsaal?«
»Ich bin zufrieden, Sadaï. Bitte erteile mir die Erlaubnis, sofort nach Gaia zurückzukehren.«
»Du hast die Erlaubnis, Jestak Shiro Adaï.«
Suvaïdar ging mit schnellen Schritten zurück in ihr Zimmer, streckte sich auf der Matte aus und zog das Laken über den Kopf. Sie hörte das Knarren einer sich öffnenden Tür und das Geräusch schneller Schritte auf dem Steinboden des Flurs. Die Schritte wurden langsamer und verstummten vor ihrer Tür, die sie halb offen gelassen hatte. Suvaïdar zwang sich, langsam zu atmen, als würde sie schlafen. Nach ein paar Sekunden, die ihr endlos vorkamen, entfernte sich Jori Jestak. Dann hörte sie das leiste Geräusch der Eingangstür, die geöffnet und vorsichtig wieder geschlossen wurde.
Als der Mann darum gebeten hatte, sofort gehen zu dürfen, hatte er es wortwörtlich gemeint. Nun musste er auf dem langen Weg nach Gaia der heißen Sonne die Stirn bieten. Sein einziger Schutz war sein Mantel. Mit Sicherheit würde er schmerzhafte Verbrennungen davontragen oder sogar noch Schlimmeres. Außerdem war Wind aufgekommen. Suvaïdar konnte es nicht begreifen. Der Mann hätte doch noch warten können, ehe er sich auf den Weg machte!
Aber so war er, Jori Jestak, Ex-Berater der Sadaï und biologischer Vater Suvaïdars und ihres geklonten Bruders. Letzterer war noch ein kleines Kind, und sie hatte ihn noch nie gesehen.
Suvaïdar bedauerte, sich ihren Vater am Tag zuvor nicht näher angeschaut zu haben, aber sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Haridar gerichtet. Was ihr nun blieb, war die verschwommene Erinnerung an einen dürren, ein wenig krummen Mann mit einer hässlichen Zickzack-Narbe, die von der Stirn bis zum Kinn reichte.
Einen Moment gab Suvaïdar sich der Hoffnung hin, er hätte vor ihrer Tür haltgemacht, um einen letzten Blick auf seine Tochter zu werfen. Doch dann schalt sie sich ob dieser dummen Sentimentalität. Jori hatte seine Meinung über sie, Suvaïdar, wenige Minuten zuvor unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Er war nur deshalb an der Tür stehen geblieben, weil sie nicht verschlossen gewesen war und weil er den Verdacht hegte, ein Neugieriger hätte dem Gespräch lauschen können. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er den Betreffenden im Fechtsaal zur Rechenschaft gezogen.
Dann erst wurde ihr der Sinn einer der Sätze klar, den sie kurz zuvor belauscht hatte. Es traf sie wie ein Schlag in den Magen und raubte ihr beinahe den Atem: Rico hatte sich also für das Shiro-Privileg entschieden. Suvaïdar kannte sie erst seit wenigen Monaten, aber sie hatten zusammen die Volljährigkeitsprüfungen bestanden und waren einander sehr nahe gekommen. Rico war eine gute Kameradin gewesen, loyal, zuverlässig und intelligent. Sie hätte jedes Fach erfolgreich studieren und anschließend ein angenehmes Leben führen können. Das Fechten hätte sie natürlich aufgeben müssen. Aber sie hatte beschlossen, das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen, statt mit einer Behinderung weiterzuleben.
Sollte es tatsächlich wahr sein, dass die Volljährigkeitsprüfungen – wie Haridar behauptet hatte – absurd und anachronistisch wären, könnte man auf das Erlebte nicht mehr stolz sein. Sie hatten Hunger und Durst ertragen, hatten einen Alligator bezwungen, hatten den Néko und das schreckliche Monster ohne Namen überlebt, das auf dem Tränkepfad auf der Lauer gelegen hatte. Und nun hatte Suvaïdar zum ersten Mal gehört, wie eine erwachsene Shiro die Richtigkeit der heiligen Traditionen Ta-Shimas anzweifelte. Und es handelte sich dabei nicht um irgendeine Erwachsene, sondern um die höchste Autorität auf ihrem Planeten. Nie würde sie die Worte Haridars vergessen. Sollte sie recht haben, wäre der Tod Ricos nicht nur sehr traurig, er wäre inakzeptabel. Und das heilige Sh’ro-enlei wäre kein naturgegebenes Gesetz, sondern das willkürliche Hirngespinst von Fanatikern wie Jori Jestak.
In einem Punkt jedoch hatte Haridar unrecht: Als sich zwölf Jahre später die Orkane legten, die den Wechsel der Jahreszeiten ankündigten, erschien das Raumschiff der Föderation am Himmel. Die Unholde aus dem
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