Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Sie mussten durch zahllose Gänge und Räume. Die Bauweise des Hauses war anarchisch: Man hatte je nach Notwendigkeit und Anzahl der Bewohner neue Flügel und Anbauten hinzugefügt. Die Geschwister trafen mehrere Erwachsene, vor denen sie sich verbeugten, wie es Pflicht war, und die Erwachsenen grüßten mit einem Kopfnicken zurück.
Rechtzeitig erreichten Lara und Wang die Umkleidekabinen. Sie entblößten ihren Oberkörper und zogen ihre Tunika aus. Anschließend umwickelten sie Kopf und Gesicht mit Binden, nur dieAugen blieben frei. Doch der Gesichtsverband bot nur geringen Schutz, wie die vielen Narben auf den Gesichtern älterer Fechter dokumentierten. Eigentlich hatte der Verband nur symbolischen Wert: Er verschleierte die Identität desjenigen, der ihn trug, und wies darauf hin, dass in einem Fechtsaal alle gleich waren, Männer und Frauen, Shiro und Asix. Nur der Lehrer und seine Assistenten trugen keine Masken.
Der Fechtsaal war sehr groß, und der Fußboden bestand aus Holz statt aus Stein, wie sonst überall im Haus. An den Wänden hingen die Blutklingen in ihren Futteralen aus robustem Leinen. Die Blutklingen waren die echten, kostbaren Waffen aus dem seltenen Metall. Sie waren scharf und spitz und wurden nur bei einem Duell verwendet. Auf dem Boden lagen Ertüchtigungswaffen, einige aus leichtem Holz, nicht wirklich gefährlich, aber in der Lage, einem Gegner schmerzhafte Schläge zuzufügen. Andere waren aus Binsen und für Anfänger gedacht.
Der Kurs für Kinder war noch nicht zu Ende. Lara, Wang und andere Jugendliche begannen konzentriert mit Aufwärmübungen und schauten sich dabei ein wenig um. Die Kinder, die vier oder fünf Trockenzeiten alt waren, durften noch keine Waffen benutzen, nicht einmal aus Binsen; sie begnügten sich mit Übungen, die ihren Körper kräftigten. Soeben beendeten sie eine Reihe von Bauchübungen, die besonders lange gedauert hatten und anstrengend gewesen waren, wie man an den roten Gesichtern der Kinder erkennen konnte.
Doran Huang, die alte Shiro, die diese strengen Kurse an der kleinen Akademie des Clans leitete, ging mit ihren Assistenten, einer Asix und zwei Shiro, die zu den Besten des Fortgeschrittenenkurses zählten, durch die Reihen der Schüler. Lara stellte mit Schrecken fest, dass es sich bei einem der Assistenten um Cort handelte. Eine unangenehme Person. Cort war ... Lara suchte nach den richtigen Worten, die ihr schließlich einfielen: Cort war unnötig grausam. Es mochte normal sein, den Kurs mit ein paar blauen Flecken und Kratzern zu verlassen, aber Cort liebte es, Schläge auszuteilen, die richtig wehtaten, insbesondere, wenn sein Gegner schwächer war als er. Und es war kaum möglich, sich überihn zu beschweren, denn er hielt sich strikt an die Regeln, auch wenn er deren Geist nicht achtete.
»Nicht müde werden!« Die Reitpeitsche von Doran Huang streifte leicht die Beine eines Jungen. »Wegen deines Fehlers werden alle noch einmal eine Zwanziger-Serie machen. Los!«
Sie begann zu zählen.
»Aber seine Beine sind vorher schon eingeknickt!«, protestierte einer der Bestraften.
»Noch einmal zehn für alle, weil du gesprochen hast, ohne dass dich jemand gefragt hat. Und noch mal zwanzig, weil du gepetzt hast. Deine Kameraden werden es dir nach dem Kurs bestimmt danken.«
Die Mehrzahl der Schüler waren Shiro. Für sie waren die Kurse Pflicht, aber es tummelten sich dort auch viele kleine Asix. Lara fragte sich, was die Asix dazu trieb, in ihrer knapp bemessenen Freizeit, die Schule und Fronarbeit für den Clan ihnen ließ, ausgerechnet an diesen harten Kursen teilzunehmen.
Als Nächstes mussten die Kinder in Kampfstellung verharren. Die Assistenten gingen durch ihre Reihen. Manchmal stupsten sie eines der Kinder an. Wer dabei das Gleichgewicht verlor, wurde gerügt. Wer umfiel, bekam einen Hieb und durfte nicht weinen. Er musste sofort wieder aufstehen, sich mit einem »Ay« entschuldigen und auf den nächsten Schubs warten. Lara hasste diese Übungen, denn schon nach wenigen Minuten brannten die Muskeln an Beinen und Oberschenkeln. Und sie schaffte es nie, stehen zu bleiben, wenn man ihr einen Stoß versetzte. Trotzdem wurde sie nicht oft bestraft, denn sie gab ihr Bestes und bemühte sich nach Kräften. Dennoch würde sie niemals eine gute Kämpferin sein.
Unter den Kindern war auch Akio, der Bruder von Kio. Er war an einer Narbe am Schulterblatt zu erkennen. Es wäre besser für ihn gewesen, seine Mutter hätte ihn ebenfalls mit nach
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